Die Toten der Villa Triste
angestellt? Aber sie bekam keine Antwort. Man tat so, als hätte man sie gar nicht gehört. Stattdessen wurde sie nach oben geführt, und sie glaubte schon, jetzt würde man sie verhören oder sie könnte Papa oder Carlo sehen. Man würde ihr die zerschundenen Leichen zeigen oder die Leichen der anderen, um sie zum Reden zu bringen. Aber stattdessen gingen sie mit ihr hinaus und führten sie zu einem Wagen, wo sie zusammen mit einem Offizier des SD – des Sicherheitsdienstes, wie der SS-Geheimdienst heißt –, nicht mit einem der Carita-Schläger, im Fond Platz nehmen musste. Der Fahrer gehörte ebenfalls zum SD. Obwohl die Männer kaum ein Wort sprachen und keine ihrer Fragen beantworteten, waren sie ausgesprochen höflich. Sehr korrekt. Sie fuhren mit ihr in die Hügel.
Es schien ihnen gleichgültig zu sein, ob Issa sah, wohin sie fuhren – die Fenster des Wagens waren nicht verhängt –, darum war sie überzeugt, dass sie gleich getötet würde. Als der Wagen anhielt und ihr Begleiter sie aufforderte auszusteigen, während der Fahrer um den Wagen herumkam und ihr den Schlag aufhielt, als wäre er ein Chauffeur, glaubte sie, sie würden ihr gleich befehlen loszurennen und sie dann erschießen. Sie war bereit, erzählte sie mir.
Aber das taten sie nicht. Stattdessen gingen sie mit ihr auf einem kleinen Pfad in den Wald hinein.
Es war ein schöner Weg. Mit lichtem Schatten. Die Sonne schien durch die Birken. Die Vögel sangen, und in der Luft lagen der Geruch von feuchter Erde und jener pelzige Duft der jungen Blätter, der dem Sommer so eigen ist. Sie gingen etwa eine Viertelstunde. Auch dabei verhielten sich die beiden ausgesprochen höflich und bedacht, nie wurde Issa zur Eile gedrängt. Schließlich gelangten sie auf eine Lichtung. Von dort aus konnte man bis auf die Stadt hinabblicken. Anfangs wusste sie nicht, warum sie ausgerechnet hier angehalten hatten. Dann sah sie den Graben.
Der SD-Offizier nahm beinahe zärtlich ihren Arm und führte sie an die Kante.
Papa und Enrico sahen fast unverletzt aus. Sie sagte, sie hätten fast friedlich ausgesehen, weil sie in den Hinterkopf geschossen worden waren, sodass nur eine Kugel nötig war. Carlo nicht. In seiner Stirn klaffte ein Loch. Sie ging in die Knie, sie versuchte sich vorzubeugen und ihn zu berühren, das Loch in seiner Stirn zu bedecken. Aber der SD-Mann ließ sie nicht. Er hielt sie an der Schulter zurück. Dann erklärte er ihr, dass die anderen den Befehl befolgt hatten, aber Carlo sich geweigert hätte, sich umzudrehen. Er hatte sich geweigert, in die andere Richtung zu sehen, als sie auf ihn schossen.
Die anderen lagen darunter. Issa sah Beine, Arme, Schuhe, Hände, alles in einem großen Durcheinander. Sie hatten den Graben selbst ausheben müssen. Die Spaten steckten noch in der Erde.
Issa stand auf und sah den Offizier an. Sie bat ihn, sie ebenfalls zu erschießen. Sie bettelte ihn an. Er lächelte, fast als hätte er so etwas erwartet. Dann verbeugte er sich wie ein vornehmer Herr und erklärte ihr, dass das Deutsche Reich keine Schwangeren töte. Danach nahm er sie am Arm und brachte sie zum Auto zurück.
Nachdem sie das erzählt hatte, verstummte Issa wieder. Sie saß da, den Rücken an die Wand gelehnt, und sprach kein Wort mehr. Als sie uns etwas zu essen brachten, fragte ich, wohin sie Mama gebracht hatten. Sie wollten es mir nicht verraten, aber ich hoffe, dass sie in San Verdiana ist. Mutter Ermelinda, die das Frauengefängnis leitet, ist ein guter Mensch. Sie ist mitfühlend und eine einfühlsame Krankenschwester. Mama verließ uns in dem Glauben, dass Papa und Enrico noch am Leben waren. So hatte es Issa gewollt.
In der folgenden Nacht steckten sie Issa und mich in einen Zug. Jetzt sitzen wir mit wahrscheinlich hundert anderen Frauen in einem Lagerhaus in Verona. Manche von ihnen liegen im Sterben. Manche sind vielleicht schon tot. Manche wurden gefoltert, und ich habe versucht, ihnen zu helfen, aber ich habe nichts, womit ich ihnen helfen könnte. Wir haben kaum etwas zu essen und nichts bei uns, nur die Sachen, die wir bei unserer Verhaftung getragen haben – und nur darum habe ich immer noch dieses Buch. Sie haben mir die Uhr abgenommen, aber den Saum meiner Jacke haben sie nicht abgetastet.
In den letzten Tagen ging mir das Haus in der Via dei Renai nicht aus dem Kopf. Schließlich hatte ich es ausgesucht, darum muss es irgendwie meine Schuld sein. Ich war so vorsichtig, ich hielt mich wenigstens für so vorsichtig. Immer
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