Die Toten der Villa Triste
seine Jackentasche und zog eine jüngere Fotografie von Roberto Roblino heraus, die Enzo für ihn kopiert hatte. Er legte sie auf den Tisch.
»Ich wollte Sie fragen, ob Sie jemals diesen Mann gesehen haben.«
Marta stellte ebenfalls die Tasse auf die Untertasse zurück und beugte sich vor. Ein paar Sekunden lang blickte sie gebannt auf das Bild, dann schüttelte sie den Kopf.
»Sie sind sich ganz sicher?«
Kein Lächeln. Der Blick, den sie ihm stattdessen zuwarf, sagte ihm deutlich, dass sie das für eine dämliche Frage hielt.
»Natürlich bin ich mir sicher, Dottore.« Sie griff nach ihrer Tasse. »Ich habe ein sehr gutes Personengedächtnis.«
Pallioti glaubte ihr. Plötzlich wünschte er sich, er hätte ein Bild von Eleanor Sachs.
»Wer ist das?«, fragte sie.
»War. Er ist tot.«
Marta sah nicht so aus, als würde sie das besonders überraschen.
»Er war ein Freund von Signor Trantemento«, erklärte Pallioti. »Er hieß Roberto Roblino. Kommt Ihnen der Name irgendwie vertraut vor?«, probierte er es noch einmal. »Hat Signor Trantemento vielleicht irgendwann über ihn gesprochen? Über einen alten Freund aus der Nähe von Brindisi?«
Marta schüttelte den Kopf. »Signor Trantemento hat kaum je über etwas gesprochen. Manchmal über seine Einkäufe. Gelegentlich über das Wetter.«
»Und über alte Freunde?«
»Nie.«
»Einen Roberto Roblino? Bitte versuchen Sie, sich zu erinnern. Haben Sie den Namen je auf einem Briefumschlag gelesen? Als Absenderadresse? Auf einer Postkarte vielleicht. Aus dem Süden.«
Marta setzte ihre Tasse ab.
»Signor Trantemento bekam keine Postkarten.« Sie sah ihn aufmerksam an. Dann fragte sie: »Hat das etwas mit diesem Mädchen zu tun? Dieser Amerikanerin?«
»Dr. Eleanor Sachs?«
Marta zuckte mit den Achseln. »Dunkles Haar. Ein Mantel wie eine Spionin. Im Film. Casablanca. «
»Ja, das könnte hinkommen. Haben Sie mit ihr gesprochen?«
Sie nickte. »Ein einziges Mal. Da habe ich ihr erklärt, dass er tot ist. Fragen, Fragen.« Sie sah ihn kurz an. »Ich habe ihr gesagt, sie soll sich an Sie wenden.«
»An mich wenden?«
»Ich habe ihr Ihre Karte gegeben.«
»Meine Karte?« Daher hatte Dr. Sachs also seine Durchwahl.
»Certo« , sagte Marta. »Dafür war sie doch gedacht, oder? Sie hatte sich verlaufen«, ergänzte sie.
»Verlaufen?« Pallioti setzte seine Tasse wieder ab.
»Nicht im wörtlichen Sinn, Dottore.« Marta lächelte. »Ich habe ihr nichts erzählt und sie auch nie wiedergesehen«, versicherte sie gleich darauf. »Und den hier …«, sie schob ihm das Foto von Roberto Roblino wieder zu, schubste es mit der Spitze des Daumennagels an, als könnte das Hochglanzpapier vergiftet sein. »Ich habe den Mann nie gesehen. Er war nie hier. Falls er seine Adresse auf einen Umschlag geschrieben hat?« Marta zuckte mit den Achseln. »Woher soll ich das wissen? Ich habe Signor Trantementos Post nicht kontrolliert. Er hatte jedenfalls keine Freunde, und ich habe den Namen noch nie gehört.«
Pallioti nahm das Bild und ließ es wieder in die Tasche gleiten. Zum zweiten Mal in einer Woche wurde er von einer alten Dame abserviert. Froh, den Tee nicht austrinken zu müssen, stand er auf. Sie schob sich an ihm vorbei, um die Riegel zurückzudrehen und die Wohnungstür zu öffnen.
Marta Buonifaccios Hand war nicht so elegant wie die von Signora Grandolo, aber ihr Händedruck war, wenn überhaupt, noch kräftiger. Als Pallioti ihre Finger losließ, erkannte er schlagartig, dass die beiden Frauen, die auf den ersten Blick so gegensätzlich wirkten, einander im Grunde sehr ähnlich waren. Die Ähnlichkeit lag in ihren Augen, in ihrem direkten Blick. In ihrer Haltung.
»Im Krieg«, sagte er und blieb unvermittelt stehen. »Waren Sie da hier? In der Stadt?«
Marta schaute auf ihre Schuhe. Heute trug sie geschnürte Turnschuhe. Sie waren rosa mit kleinen grünen Tupfen. Kurz betrachtete sie das Muster. Dann sah sie wieder auf. »Wo hätten wir denn hingehen sollen?«
»Aber Sie haben …« Plötzlich kam ihm die Frage lächerlich vor. »Damals kannten Sie Signor Trantemento noch nicht?«
Es wurde still. Irgendwo über ihnen klappte eine Tür. Zwiebelduft wehte durch das Treppenhaus herab. Marta sah nach oben. Dann sagte sie: »Nein, Dottore. Damals kannte ich Signor Trantemento noch nicht. Ich habe ihn nie gesehen, bis er hier einzog.«
»Aber hat er je davon gesprochen?«, fragte Pallioti. »Hat er Ihnen jemals von seinen Kriegserlebnissen erzählt? Oder von
Weitere Kostenlose Bücher