Die Toten der Villa Triste
allmählich, wofür ihm die Stadt eigentlich ein Gehalt zahlte. Er sah aus dem Fenster. Er hatte sie beim Wort genommen und aus einer Eingebung heraus angerufen. Vielleicht, dachte er, weil er einfach ihre Stimme hören wollte – die Stimme eines Menschen, der sich für seine Mitmenschen einsetzte. Oder der wusste, was damals passiert war.
Das strahlende Wetter vom Vortag hielt noch an, obwohl es inzwischen deutlich kälter war. Die Sonne beschien die Piazza unter seinem Fenster. Pallioti blinzelte.
»Natürlich«, meinte Signora Grandolo eben, »ist die Geschichte von Radio JULIA besonders schrecklich. Andererseits glaube ich, dass all die Geschichten hinter diesen Plaketten schrecklich sind. Sonst würde man nicht daran erinnern.«
»Nein«, murmelte Pallioti.
Er schaute auf den Springbrunnen. Der Wasserbogen funkelte und glitzerte. Vor dem Restaurant dahinter saßen ein paar unverbesserliche Optimisten in dicken Mänteln an den Terrassentischen, tranken Kaffee und versuchten, in Handschuhen Zeitung zu lesen.
»Ich nehme nicht an, dass Sie jemanden davon kennen …«, hörte er sich fragen, »… oder Informationen über die Beteiligten haben? Oder ihre Familien …«
»Von Radio Julia?«
Pallioti spürte eher, als dass er hörte, wie sich der Tonfall änderte. Das Lachen war erloschen und wurde durch nüchternen Ernst ersetzt.
»Nein. Es tut mir leid«, sagte Signora Grandolo. »Keiner von ihnen hat damals überlebt. Auch das machte es so schrecklich. Natürlich«, sagte sie, »war die ganze Funkerei ein hochriskantes Glücksspiel. Die Signale konnten zurückverfolgt werden.«
»Ja«, sagte Pallioti. »Ja, natürlich.«
Er hätte hinausposaunen können, dass in Wahrheit etwas ganz anderes passiert war. Dass die Übertragung noch gar nicht begonnen hatte, dass sie gerade erst auf den Speicher gestiegen waren – Enrico und sein Vater und Carlo –, dass sie das Gerät wahrscheinlich nicht einmal eingeschaltet hatten, als auf der Straße das Quietschen der Bremsen und auf den Stufen schwere Schritte zu hören waren.
»Ich habe gehört«, sagte er stattdessen, »dass es noch eine zweite Gedenkstätte gibt?«
Er sparte sich die langatmige Erklärung, dass er beinahe eine frustrierende halbe Stunde gebraucht hatte, um die versteckte städtische Webseite zu finden, auf der die Gedenkstätten und Erinnerungstafeln für die im Weltkrieg gestorbenen Florentiner verzeichnet waren.
»Ganz recht«, antwortete Signora Grandolo nach kurzem Schweigen. »Es gibt eine. Eine zweite Gedenkstätte für die Betreiber von Radio Julia. Oben in den Hügeln.« Sie blieb kurz still. »Sie müssen wissen«, erklärte sie dann, »dass sie erschossen wurden, nachdem man sie in die Villa Triste verschleppt hatte. Hingerichtet.«
Auf der Piazza klatschten und tanzten die Flaggen. Die Tischdecken vor dem Restaurant versuchten, sich flatternd und zerrend aus den Klammern zu befreien, die sie auf der Tischplatte hielten. Pallioti sah einen Ober aus dem Restaurant kommen. Ein Gast senkte eine Zeitung und sprach ihn an. Es war eine Frau. Ihr kurzes dunkles Haar wurde vom Wind zerzaust.
»Ispettore?«, sagte Signora Grandolo. »Entschuldigen Sie. Ich wollte nicht indiskret sein.«
Erschrocken stellte Pallioti fest, dass sie ihn etwas gefragt hatte und er beim besten Willen nicht wusste, was.
»Nein, nein«, murmelte er. »Ganz und gar nicht.«
Die Frau vor dem Restaurant drückte mit einer Hand die Zeitung auf den Tisch und schlug mit der anderen den Mantelkragen hoch, während sie mit dem Kellner sprach. Pallioti kniff die Augen zusammen. Er war sicher, dass es Dr. Eleanor Sachs war.
»Sie hatten das bei unserer ersten Begegnung gar nicht erwähnt«, sagte Signora Grandolo eben. »Also, Sie interessieren sich für Radio Julia, wie ich feststelle?«
»Es geht um ein paar Recherchen.« Pallioti wandte sich vom Fenster ab. »Ich bin da auf etwas gestoßen. Die Geschichte ist so, also …«
Signora Grandolo rettete ihn mit einem Seufzen.
»Grauenvoll«, ergänzte sie. »Ja, sie ist grauenvoll. Ich nehme an, darum sind die Blumen so wichtig – wenigstens für mich.«
»Diese andere Gedenkstätte …« Pallioti sah auf seinen Schreibtisch, doch stattdessen sah er Issas und Caterinas Vater – einen Universitätsprofessor, einen Mann voller Würde – mit nacktem, brillenlosem Gesicht neben seinem Sohn liegen. Unter ihnen ein Gewirr von Armen und Beinen. Neben ihnen Carlo, Issas Erzengel, der Vater ihres ungeborenen Kindes, mit
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