Die Toten der Villa Triste
Dad, aber nicht sein leiblicher Vater. Mein Vater hatte das immer gewusst. Meine Großmutter hatte meinen Großvater hier in Italien geheiratet. Mein Großvater – also der Mann, den sie heiratete, ihr Ehemann – arbeitete im Süden bei den Alliierten, und nachdem sie geheiratet hatten, wanderte er mit ihr nach Amerika aus. Damals bekamen viele, die für die Alliierten gearbeitet hatten, die Möglichkeit, amerikanische Staatsbürger zu werden. Aber der Mann, den sie damals heiratete, war nicht der Vater ihres Kindes. Verstehen Sie?« Sie sah ihn an. »Sie hatte das Baby, meinen Dad, schon, bevor sie heirateten. Er war das Kind eines anderen Mannes. Mein Dad hat das nur durch Zufall herausgefunden. Ein alter Freund seines Vaters aus der Army hatte sich verplappert, nachdem mein Großvater gestorben war. Seine Eltern hatten es ihm nie verraten. Ich habe ihn einmal gefragt, warum.« Sie lächelte. »Er meinte damals, wahrscheinlich hätten sie es für bedeutungslos gehalten. Für ihn war sein Dad immer sein richtiger Dad gewesen. Er vergötterte ihn.« Sie spielte am Stiel ihres Glases herum. »Jedenfalls führte mich eigentlich meine Abschlussarbeit hierher.« Sie sah wieder auf, und ein Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. »Über Petrarca. Mit, wie Sie richtig festgestellt haben, etwas Dante und Boccaccio als Beilage. Trotzdem musste ich immerzu an die Partisanen und die Geschichten meines Vaters denken, und ich fragte mich, was meine Grandma damals wohl angetrieben hatte. Warum hatte sie meinem Dad all diese Geschichten erzählt, woher wusste sie das alles überhaupt, und noch dazu so detailliert? Es sei denn, sie wusste, wer Il Spettro gewesen war, und hätte einen Grund gehabt, ihm davon zu erzählen.«
Pallioti sah den Sprung kommen. »Sie glaubten also, sie hätte ihm von seinem leiblichen Vater erzählt?«
Eleanor Sachs nickte. »Ich glaube, sie wollte, dass er Bescheid wusste. Gleichzeitig wollte sie ihrem Ehemann oder ihrem Sohn nicht wehtun – sie wollte ihre Beziehung nicht beschädigen. Darum hat sie meinem Vater nie verraten, dass sein Vater nicht sein Vater war. Nichtsdestotrotz sollte er Bescheid wissen, er sollte stolz sein. Auf sich. Auf seine Herkunft. Auf das, was sein Volk geleistet hatte.« Ihr Blick tastete Palliotis Gesicht ab. »Können Sie das verstehen?«, fragte sie. »Können Sie das nachfühlen? Und jetzt, wo er tot ist, wo mein Dad tot ist, möchte ich die Wahrheit erfahren. Mehr noch. Falls mein Großvater noch lebt, will ich ihn kennenlernen.«
»Selbst wenn er zwei Männer ermordet hätte?«
Eleanor nickte. »Selbst wenn er sie getötet hat.« Ihm fiel auf, dass sie den Indikativ verwendete, so, als weigerte sie sich zu hören, was er ihr erklärt hatte. »Das ist mir gleich«, sagte sie. »Wenn er noch lebt, will ich es wissen.«
»Und erklären Sie mir noch mal, wie Sie darauf kamen, dass Il Spettro die beiden umgebracht haben soll.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich nicht. Ich nehme an, weil ich angefangen hatte, nach ihm zu suchen. Ich hatte so eine Ahnung. Als würde ich ihm langsam näher kommen. Das hört sich verrückt an, oder?«
Pallioti nahm einen Schluck Grappa und schwieg. Ahnungen hörten sich immer verrückt an. Trotzdem hatte er ständig welche. Ein Kommentar blieb ihm allerdings erspart, denn Eleanor Sachs lachte plötzlich auf.
»Wissen Sie«, sagte sie, »eigentlich kam mir erst beim sechzigsten Jahrestag, als ich bei den Feiern und der Ordensverleihung die vielen alten Männer sah, der Gedanke, dass er noch am Leben sein könnte und dass ich ihn in diesem Fall lieber bald aufspüren sollte. Davor war das Ganze nur ein privates Forschungsprojekt. Sie wissen schon, ein Zeitvertreib, wenn ich die Nase voll hatte vom Mittelalter – so wie, ach, ist das nicht interessant? Es gibt Interviews mit ehemaligen Partisanen«, fuhr sie fort, »man kann sie im Internet finden. Es war eine Art Spiel. So als würde ich auf gut Glück nach Hinweisen suchen.«
Pallioti musterte sie. »Und sind Sie fündig geworden?«
»Nein«, bekannte sie. »Trotzdem stöberte ich in meiner Freizeit immer weiter. Ich begann, alles zu sammeln, was ich über Il Spettro erfuhr. Alle möglichen Geschichten. Eigentlich sind es eher Legenden. Einige davon sind wirklich ziemlich weit hergeholt. Versteckspiele mit den Nazis. Und dann …« Sie zuckte mit den Achseln. »Ganz ehrlich? Mein Mann hat recht. Es wurde zur Obsession. Mein Dad wurde krank. Ich zeichnete die Ordensverleihung
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