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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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im Fernsehen auf. Immer und immer wieder sah ich sie mir an, um festzustellen, ob einer dieser alten Männer mir ähnlich sah. Oder meinem Dad.« Sie spielte wieder mit ihrem Glas. »Wahrscheinlich dachte ich, es wäre wirklich fantastisch, wenn ich vor seinem Tod seinen Vater aufspüren würde.« Sie schüttelte den Kopf. »Natürlich konnte ich das nicht. Aber danach konnte ich nicht wieder aufhören.« Sie trank ihren Grappa aus und ließ die Hände auf den Tisch sinken. »Die ganze Sache hätte um ein Haar meine Ehe zerstört. Mein Mann findet das alles lächerlich. Für eine erwachsene Frau.«
    Erst jetzt fiel Pallioti der weiße Streifen an ihrer linken Hand auf, der Abdruck in der Haut, wo man normalerweise den Ehering trug.
    »Ich schätze, ihr Europäer tut so etwas nicht«, sagte sie. »Irgendwie ist das eine amerikanische Leidenschaft, nicht wahr? Die Ahnenforschung.« Sie holte tief Luft. »Wahrscheinlich ein Vermächtnis unserer Vergangenheit als Schmelztiegel. Dass wir unbedingt wissen wollen, wer wir sind. Als würde das etwas ändern. Jedenfalls«, sie lächelte, »habe ich mich damit zum Narren gemacht. Ich schreibe tatsächlich ein Buch«, erklärte sie dann. »Wirklich. Und es handelt von den Partisanen.«
    Pallioti nickte.
    Eleanor Sachs lachte wieder. »Glauben Sie mir?«, fragte sie dann.
    »Ja«, sagte er. Und das stimmte. Obwohl vieles auf das Gegenteil hindeutete, obwohl in der riesigen Umhängetasche, die sie ständig herumschleppte, problemlos mehrere Pfund Salz und ein kleines Maschinengewehr Platz gefunden hätten, obwohl sie ihn verfolgt und ihn dreist angelogen hatte, glaubte er ihr tatsächlich. Jetzt. Er leerte sein Glas und winkte nach der Rechnung. Die Gäste zum Mittagessen drängten herein.
    »Sie sollten wissen«, erläuterte Pallioti, »dass wir zurzeit in eine ganz andere Richtung ermitteln. Anscheinend hat die Sache gar nichts mit irgendwelchen Partisanen zu tun.«
    »Also keine Geisterjagd, wie?« Eleanor Sachs versuchte, fröhlich zu klingen, aber Pallioti bezweifelte, dass sie ihm glaubte. Obsessionen waren seiner Erfahrung nach nicht so leicht klein- oder gar totzukriegen.
    »Ich wüsste etwas, was wir tun könnten«, sagte er.
    Sie sah auf und zog die Brauen hoch.
    »Es ist ein ganz unschuldiger Vorschlag, Signora. Wir könnten eine Vereinbarung treffen.«
    »Eine Vereinbarung?«
    »Ja. Wenn Sie mir versprechen, mich nicht mehr zu verfolgen – was Ihnen ohnehin nichts bringen wird, glauben Sie mir –, dann verspreche ich im Gegenzug, dass ich Ihnen sofort Bescheid gebe, falls ich etwas herausfinde, was Sie eventuell zu Il Spettro führen könnte oder was darauf hinweist, dass er je existiert hat.« Er sah sie an und streckte die Hand aus. »Abgemacht?«
    Eleanor Sachs schien kurz zu überlegen. Dann ergriff sie seine Hand.
    »Abgemacht«, sagte sie.

23. Kapitel
    10. Oktober 1944
    Ich ging los. Ganz langsam. Mir schlotterten die Knie. Ich spürte Issas Hand, spürte ihre Finger zwischen meinen, während wir uns durch die Menge schoben. Auf der Straße wurde geschrien. Selbst wenn ich über die Schultern und Köpfe hätte schauen können, hätte ich wohl nicht den Mut aufgebracht, mich umzudrehen. Ich blickte stur geradeaus. Ich hörte Getrappel. Die Parade des Elends, an der wir bis eben teilgenommen hatten, hatte wieder Formation angenommen und setzte ihren Marsch fort.
    »Hier entlang.«
    Ich hatte es bis dahin gar nicht gemerkt, aber wir wurden geführt, geleitet von einem großen blonden Mädchen in einem modischen Kostüm. Sie schob sich lächelnd an einer Gruppe von Männern vorbei, drehte sich dann um und fing meinen Blick auf.
    »Hier hinein.«
    Ich sah, dass sie die Tür zu einem Restaurant aufhielt. Goldene Buchstaben schimmerten auf dem Glas. Wir traten ein, und die Welt blieb hinter uns zurück. Vor uns warteten dunkle Wandvertäfelungen und weiße Tischdecken. Ich kam aus dem Tritt. Diesmal schob Issa mich behutsam vorwärts, indem sie sanft die Hand in meinen Rücken legte. Der Essensgeruch ließ mich straucheln. Mir wurde schwindlig. Bestimmt, dachte ich, würden uns die anderen Gäste auf den ersten Blick durchschauen. Unsere verfilzten Haare waren unter Hüten und unsere schmutzigen Kleider unter weiten Mänteln verborgen, aber mit Sicherheit würden sie uns am Gesicht, an den Augen ansehen, woher wir kamen. Ob sie es taten oder nicht, weiß ich nicht, denn niemand sah auf. Alle Gäste sahen ausschließlich einander an oder auf ihren Teller.

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