Die Toten der Villa Triste
Zigarettenrauch hing im Raum. Man hörte Gläser klirren und Silberbesteck über Porzellan schaben. Plötzlich befürchtete ich, jeden Moment in Tränen auszubrechen.
Das Mädchen führte uns an einen runden Tisch im hintersten Eck. Sie setzte sich auf den Stuhl mit Blick zur Tür und bedeutete uns, die beiden Stühle mit dem Rücken zum Eingang zu nehmen, aber kaum hatte sie sich gesetzt, veränderte sich ihre Miene. Das leere Lächeln, das sie bis dahin zur Schau getragen hatte, erlosch.
»Nicht.« Issa drückte unter dem Tisch meine Hand, als ich mich unwillkürlich umdrehen wollte. Sie drückte mit aller Kraft. »Tu so, als würdest du mit uns reden«, befahl sie. Und dann hörte ich das flache, harte Italienisch, wie es mit deutschem Akzent gesprochen wurde. Die falschen Betonungen, das leichte Schnauben am Wortende, als wären nicht nur wir, sondern auch unsere Sprache ein Witz.
Drei Soldaten waren hereingekommen. Ich sah sie aus dem Augenwinkel. Sie trieben in mein Blickfeld, wischten sich Regentropfen von den Jackenärmeln, lachten, holten Zigaretten aus ihren Taschen und boten sie sich gegenseitig an.
Das Mädchen beugte sich mit einem Lächeln voll falscher Begeisterung vor, als wären wir alte Freundinnen, mit denen sie sich zum Plaudern getroffen hatte.
»Es gibt eine Toilette«, sagte sie. »Neben der Bar links. Unterhaltet euch noch eine Minute mit mir, dann steht ihr langsam auf und geht dorthin. Schließt ab. Ich komme nach.«
Ich sah Issa an. Ich sah die Müdigkeit in ihrem Gesicht, eine Art zerbrechliche Erschöpfung, als wäre ihr plötzlich alles zu viel und sie könnte jeden Moment zerspringen. Ich streckte langsam die Hand aus, nahm zwei Brötchen aus dem silbernen Korb und steckte sie ein. Dann stand ich auf.
»Komm«, sagte ich mit einem aufgesetzten Lächeln und reichte ihr die Hand. »Komm mit und leiste mir Gesellschaft.«
Ich spürte, dass einer der Soldaten uns beobachtete, ich spürte seinen Blick wie eine kalte Hand im Nacken. Ich wusste, wenn ich mich umdrehte, würden sich unsere Blicke treffen. Ich nahm Issa am Arm und senkte den Kopf zu ihrem, als flüsterten wir uns Mädchengeheimnisse zu. Wir schwebten an der Bar vorbei und verschwanden durch die Tür im dunklen Flur.
Nachdem wir die Tür verriegelt hatten, wuschen wir uns das Gesicht und kämmten uns mit den Fingern die Haare. Es gab hier Seife. Und sogar ein Handtuch. Wir schrubbten unsere Hände. Dann setzten wir die Hüte wieder auf, hockten uns neben das Waschbecken und aßen die Brötchen, während wir gleichzeitig auf Schritte im Gang lauschten. Schließlich hörten wir sie, doch es waren nicht die Schritte des Mädchens, sondern die einer Köchin, einer älteren Frau aus der Küche. Sie winkte uns wortlos und trieb uns schweigend zur Eile an. Ich rätselte, ob wir ihr wirklich folgen sollten oder ob sie uns in eine Falle lockte, aber Issa stieß mich vorwärts, darum ging ich los. Die Köchin führte uns den Gang hinunter und durch die Küche. Dort schien uns niemand zu beachten. Am Hinterausgang erwartete uns ein Priester.
Er brachte uns durch kleine Gassen in eine Kirche. Dort lag eine Decke für uns beide bereit. Obwohl es Sommer war, war es in der Sakristei kühl. Er ließ uns allein und schloss die Tür ab. Hoch über uns gab es ein kleines Fenster. Wir lehnten an der feuchten Mauer, schauten zu, wie das Licht schwächer wurde, und hörten, wie die Glocken die nächtlichen Gebetszeiten anschlugen – Vesper, Komplet, Vigil – und zuletzt, bei Anbruch der Morgendämmerung, die Laudes. Erst kurz nach der Prim holten sie uns.
Die GAP in Verona wollten mit Issa sprechen. Erst als ich meine Schwester dabei beobachtete und sah, wie die Männer sie anschauten, während sie redete, begriff ich. Sie ist berühmt. Die Kämpfer in den GAP-Einheiten wissen vielleicht nicht, wie sie wirklich heißt, aber sie wissen, wer sie ist. Sie wissen, was sie getan hat. Wahrscheinlich verdanken ihr einige von ihnen das Leben.
Während ich ihr zuschaute, wie sie schilderte, was in dem Haus an der Via dei Renai und später in der Villa Triste sowie auf der Lichtung passiert war; während ich zuhörte, wie man ihr das Beileid aussprach, weil Carlo und so viele andere für Radio Julia gestorben waren, begriff ich, dass ich hier jemanden vor mir hatte, den ich kannte und nicht kannte. Damals sah ich Issa zum ersten Mal durch die Augen dieser Männer. Sie war nicht mehr meine jüngere Schwester, sondern eine Frau, die diese Männer
Weitere Kostenlose Bücher