Die Toten der Villa Triste
vielleicht oder etwas Belangloses über das Wetter –, klappte aber den Mund wortlos wieder zu. Der Wind schlug Pallioti entgegen, als er in die Gasse trat. So ganz ohne Mantel hätte er vielleicht gefroren, wenn er langsam genug gegangen wäre, um einen Gedanken daran zu verschwenden, aber dafür hatte er es zu eilig.
Pallioti hatte die Veranda des Restaurants mit wenigen Schritten überquert. Er schlängelte sich durch die Terrassentische, stieß die Tür auf und trat in den warmen Essensduft. Drinnen blieb er kurz stehen, bis er festgestellt hatte, dass sie am anderen Ende des Raums saß, am letzten Fenstertisch. Von wo aus man freien Blick auf das Polizeigebäude und auch auf den Taxistand hatte. Er winkte den Wirt weg, der auf ihn zugeeilt kam, und marschierte zwischen den Tischen durch.
Gerade als er ihren Tisch erreichte, sah Eleanor Sachs verblüfft auf.
Er knallte die Akte so fest auf den Tisch, dass Porzellan und Gläser klirrten.
»Sagen Sie mir …« Pallioti beugte sich vor und halb über sie, aber er wurde nicht laut. »Sagen Sie mir, warum ich Sie nicht auf der Stelle festnehmen, Sie über den Platz schleifen und Sie des Mordes an Giovanni Trantemento und Roberto Roblino anklagen sollte.«
Sie sah zu ihm auf und erbleichte sichtbar.
»Und ich rate Ihnen, mir einen guten Grund zu nennen, Dr. Sachs«, ergänzte er. »Denn ich bin wirklich sehr, sehr schlecht gelaunt. Sie haben ungefähr eine Minute.«
Sie öffnete den Mund. Und schüttelte dann den Kopf.
»Ich habe sie nicht umgebracht«, sagte Eleanor Sachs. »Ich habe noch nie jemanden umgebracht. Ich habe Ihnen doch erklärt, ich …« Sie schluckte und nickte zu der Akte hin. »Was ist das?«
»Das …«, Pallioti legte den Finger auf die Akte und schob sie ihr zu, »… das, Dr. Sachs, ist die vollständige – nein, wahrscheinlich unvollständige – Liste der Lügen, die Sie mir aufgetischt haben.«
Sie sahen sich in die Augen. Dann seufzte Pallioti.
»Ganz im Ernst«, sagte er und richtete sich auf. »Haben Sie im Ernst geglaubt, dass ich das nicht herausfinden würde?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich – ich weiß nicht. Wahrscheinlich habe ich mir das nicht überlegt. Ich … ich wollte nur …«
Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar, das sich prompt über ihrer Stirn aufstellte, sodass sie aussah wie ein Lausbub. »Ich habe niemanden umgebracht«, sagte sie noch einmal. »Ehrlich nicht. Das kann ich nicht. Ich wüsste nicht einmal, wie man das macht.« Sie stieß eines ihrer merkwürdigen bellenden Lachen aus. »Bitte«, sie sah zu ihm auf, »das müssen Sie mir glauben.«
Pallioti setzte sich ihr gegenüber.
»Warum«, fragte er, »sollte ich irgendetwas von dem glauben, was Sie mir erzählen?« Er griff nach der Akte und schlug sie auf. »Nichts, rein gar nichts von dem, was Sie mir bis jetzt erzählt haben, ist wahr.« Er sah sie an. »Bis auf Ihren Namen«, schränkte er ein. »Der scheint zu stimmen. Und Sie scheinen wirklich zusammen mit Ihrem Mann, einem gewissen Robin Sachs, an der Universität zu lehren. Aber das ist auch schon alles, oder?« Er zog das erste Blatt heraus und überflog es. »Mal sehen«, fuhr er fort, »fangen wir mit Ihrem Fachgebiet an. Nicht Geschichte. Auch nicht Sozialgeschichte. Weder italienische noch europäische Geschichte. Wie wäre es mit Literaturgeschichte? Ihr Spezialgebiet ist Petrarca. Dazu ein bisschen Dante. Das einzige Buch, das Sie je verfasst haben, beschäftigt sich mit Rhythmusmustern in der Poesie des Mittelalters und der Renaissance. Niemand hat je davon gehört, dass Sie an einer Arbeit über die Partisanen schreiben würden.« Er sah auf. »Keine Populärgeschichte, Dr. Sachs. Keine mündlich überlieferte Geschichte. Offenbar haben Sie sich vor allem darauf spezialisiert, sich Geschichten auszudenken.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das stimmt nicht. Ich …«
Bevor sie weitersprechen konnte, fiel ihr Pallioti ins Wort. »Nein?«, fuhr er sie an. »Wie wäre es hiermit, um Ihre Wahrheitsliebe zu belegen? Sie sind keineswegs vor einer Woche in Italien angekommen, wie Sie mir erzählt haben. Sondern vor mehr als drei Wochen. Sie sind mit der Air France von Bristol über Charles de Gaulle nach Neapel geflogen. Dort sind Sie am Mittwoch, dem 18. Oktober, etwa um drei Uhr nachmittags gelandet. Danach haben Sie einen Mietwagen abgeholt.« Er schloss die Akte und legte sie auf den Tisch zurück. »Ich weiß nicht, wo Sie vom Flughafen aus hingefahren sind, aber ich gehe davon
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