Die Toten der Villa Triste
Sachs. Warum verfolgen Sie mich?«
Sie seufzte und senkte den Blick. Ihr dunkler Scheitel war zerzaust. In diesem Moment erinnerte sie ihn geradezu unheimlich an seine Schwester. Als Saffy dreizehn gewesen war und sich der Todestag ihrer Eltern gejährt hatte, war sie aus dem Internat ausgebüxt und von der Polizei in einer Bar in Genua aufgegabelt worden. Es war der einzige Fehltritt, den sie sich je geleistet hatte. Das Gespräch, das er jetzt mit Eleanor Sachs führte, erinnerte ihn schmerzhaft an das Gespräch, das er an jenem Abend mit Seraphina geführt hatte.
»Eben darum«, sagte Eleanor Sachs.
Sogar die Antworten glichen sich.
»Darum? Warum jetzt? Ich verstehe das wirklich nicht, Dottoressa. Was für einen Grund können Sie haben, mich zu verfolgen?«
Heute trug sie kein Make-up, keinen Lippenstift und keine Mascara. Unter dem zerzausten Haar sah ihr bleiches herzförmiges Gesicht gleichzeitig ungeheuer jung und ungeheuer alt aus.
»Es ist derselbe Grund, aus dem ich mich überhaupt an Sie gewandt habe. Ich hatte gehofft, wenn ich in Ihrer Nähe bliebe, wenn ich Ihnen folgen könnte, würden Sie mir vielleicht den Weg zeigen zu …« Sie sah ihn flehend an.
»Il Spettro«, sagte Pallioti. »Sie haben gehofft, dass ich Sie irgendwann zu Il Spettro führen würde. Richtig?«
Sie nickte.
»Weil Sie glauben, dass Il Spettro diese beiden alten Männer ermordet hat? Weswegen? Wegen irgendeiner uralten Partisanen-Vendetta? Und weil Sie glaubten, dass ich mich wie ein Hund auf diese Fährte stürzen würde?«
Eleanor Sachs sah schweigend auf den Tisch.
»Dottoressa.« Pallioti hätte am liebsten die Hand ausgestreckt und ihre ergriffen. »Il Spettro existiert nicht.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Es tut mir leid«, wiederholte er. »Aber er existiert nicht. Es hat ihn nie gegeben.«
»O doch, es gibt ihn«, widersprach sie. »Ich weiß, dass es ihn gibt. Es muss ihn geben.«
»Warum?«
Sie schluckte.
»Weil«, flüsterte sie, »ich glaube, dass er mein Großvater ist.«
Eleanor Sachs hatte ein Taschentuch aus der großen schwarzen Handtasche geholt, die sie über die Stuhllehne gehängt hatte, trocknete sich die Augen und schnäuzte sich abschließend. Pallioti winkte dem Kellner. Er bestellte zwei Grappa. Er wartete ab, bis die kleinen Gläser vor ihnen standen, dann sagte er: »Also gut. Bitte. Warum fangen Sie nicht ganz von vorn an und erzählen mir alles?«
Eleanor Sachs griff nach ihrem Glas. Heute waren ihre Fingernägel perlmuttfarben lackiert. Sie erinnerten Pallioti an die milchigen Schalen winziger Wellhornschnecken. Oder an die Krallen kleiner Kätzchen – halb durchsichtig und unerwartet scharf.
»Ich stamme aus Cleveland. Falls Sie nicht wissen, wo das liegt, es liegt mitten im Nichts.«
»Es hat ein berühmtes Sinfonieorchester.«
Sie lächelte. »So sagt man. Wir haben es nie gesehen. Jedenfalls waren meine Eltern – also nein, mein Vater war Italiener. Meine Mutter verließ uns, als ich noch ein kleines Kind war. Sie heiratete wieder, und ich blieb bei meinem Vater. Und er erzählte mir immer … er erzählte oft von Italien. Vom Krieg und was damals alles passiert war. Vor allem von den Partisanen. Er kannte alle Geschichten. Was sie damals unternommen hatten. Von den Garibaldi-Brigaden und wie sie die Deutschen und die Faschisten bekämpften und welche Fluchtrouten sie eingerichtet hatten. Ständig erzählte er davon. Von dem, was hier passiert ist, in Florenz, und von diesem berühmten Freiheitskämpfer, dem Gespenst – Il Spettro –, das unzählige Menschen aus der Stadt schaffte und das die Deutschen nie erwischen konnten.«
Sie zuckte die Achseln und nahm einen Schluck Grappa.
»Als Kind dachte ich mir nichts weiter dabei. Natürlich nicht. Meine Mom hatte uns verlassen, als ich noch ganz klein war. Ich wuchs also nur mit meinem Dad auf. Er sprach zu Hause immer noch Italienisch, und als ich ans College ging, machte ich darin meinen Abschluss – in italienischer Literatur und Sprache. Dann fielen mir all diese Geschichten wieder ein, und so fragte ich ihn danach, und da erklärte er mir, dass seine Mutter sie ihm erzählt hatte. Ich hatte meine Großeltern nie kennengelernt, sie starben, als ich noch ein Baby war. Aber er erklärte mir, seine Mutter hätte ihm all diese Geschichten über die Partisanen und Florenz und Il Spettro erzählt.«
»Seine Mutter?«
Sie nickte. »Genau. Sie müssen wissen, sein Dad war nicht sein Dad. Ich meine, natürlich war er sein
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