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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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weitergereicht worden, durch die Linien der Alliierten hindurch, die mittlerweile oben in den Bergen standen, ebenjenen Bergen, die ich so oft von unserer Terrasse oder von meinem Schlafzimmerfenster aus betrachtet hatte – in einem anderen Leben, wie mir inzwischen schien.
    Issa beobachtete mich. Der Schatten dessen, was sie in Monte Sole gesehen hatte, lag auf ihrem Gesicht, in ihren Augen spiegelte sich der Tod, während gleichzeitig in ihrem Bauch ein neues Leben heranwuchs. Ich begriff, dass ich sie zum letzten Mal lachen gehört hatte, als ich an jenem Morgen in der Via dei Renai aus dem Fenster geblickt und gesehen hatte, wie sie Arm in Arm mit Carlo über die Straße spaziert war.
    Ich griff nach dem Umschlag. Mein Name, Caterina Cammaccio, stand in Lodovicos Handschrift darauf. Sobald ich ihn las, schreckte ich zusammen, fast als hätte ich seine Stimme gehört.
    »Ich kann nicht.«
    Ich ließ ihn auf den Tisch fallen. Issa blieb stumm.
    »Ich kann nicht«, sagte ich noch einmal. »Er ist nicht an mich gerichtet. Nicht mehr.«
    Sie machte einen Schritt auf mich zu. Sie trug immer noch ihren Mantel. Ihre Haare waren nachgewachsen. Und wieder blond, wie staubiges Gold.
    »Doch, du kannst.« Sie nahm den Umschlag und streckte ihn mir entgegen.
    »Nein, ich kann nicht.« Ich schüttelte den Kopf. »Der Brief ist nicht für mich gedacht. Sondern für jemand anderen.« Ich hörte, wie mir die Angst die Stimme abschnürte. »Er ist an die Frau gerichtet, an die Lodo beim Schreiben dachte – und die gibt es nicht mehr, Issa«, sagte ich. »Sie ist verschwunden. Sie ist tot. Und so sollte es auch bleiben.«
    »Nein, das sollte es nicht.«
    Sie streckte mir immer noch störrisch den Umschlag hin, als könnte sie mich zwingen, ihn entgegenzunehmen, damit ich ihn öffnete wie die Büchse der Pandora und mich der Vergangenheit stellte mitsamt all den Träumen, die ich gehegt und die ich einst für selbstverständlich gehalten hatte.
    »Du verstehst das nicht.«
    Ich schloss die Augen und hörte wieder Schnee unter Stiefeln knirschen. Das Schaben des Koffers, den ich über den Speicher zerrte. Ich sah die Rückseite des Krankenwagens, das rote Kreuz auf den Türen, das immer kleiner wurde und schließlich im Schnee zu verwehen schien. Ich spürte die Haut auf Dieters Handrücken, seine Fingerspitzen, seine schwielige Handfläche. Und den glatten, kühlen Satin meines Hochzeitskleids. Ich hörte Einschlagpapier rascheln und Satinknöpfe wie Regentropfen darauffallen.
    »Du verstehst das nicht, Issa«, sagte ich erneut. »Du kannst das nicht verstehen.«
    »O doch.«
    Sie packte mich am Kinn. Drehte meinen Kopf zur Seite, bis ich ihr in die Augen sehen musste.
    »Ich verstehe sehr wohl«, sagte sie leise. »Ich weiß, was du getan hast. Ich verstehe dich.«
    Wir sahen uns schweigend an.
    »Sechs Menschen haben damals überlebt, Cati. Und du und ich und Carlo und Il Corvo.« Sie senkte den Blick, nahm meine Hand und legte sie auf ihren Bauch, in dem vor ein paar Tagen zum ersten Mal ihr Kind gestrampelt hatte. »Wir wären nicht hier«, sagte sie. »Keiner von uns wäre noch am Leben, wenn damals diese Tür geöffnet worden wäre.« Issa ließ meine Hand los. »Keiner von uns ist noch der, der er früher war«, sagte sie. »Auch Lodovico nicht.«
    Sie sah mich an. Dann streckte sie mir den Umschlag von Neuem hin. Diesmal nahm ich ihn.
    »Du, meine Liebe.« So lauteten die ersten Worte. »Ich habe gehört, du seist noch am Leben …«
    Lodovico war erst Wochen nach der Befreiung nach Florenz gekommen. Er war mit den Alliierten mitgezogen, von Salerno aus in Feldhospitälern südlich der Front. Den ganzen Mai und Juni hindurch war er knapp hinter den Linien geblieben. Am Tag unserer Verhaftung hatte er sich wohl irgendwo südlich von Grosseto aufgehalten. Sobald er nach Florenz gekommen war, war er direkt zu unserem Haus gegangen – das auf wundersame Weise verschont geblieben war – und danach, als er dort niemanden vorfand, ins Krankenhaus. Dort hatte er erfahren, dass wir verhaftet worden waren. Erst hatte er angenommen, wir seien zusammen mit den anderen erschossen worden. Dann hatte er herausgefunden, dass Issa und ich abtransportiert worden waren. Offenbar hatte es die SS bei ihrem überstürzten Abzug versäumt oder nicht mehr geschafft, die Unterlagen aus der Villa Triste mitzunehmen. Alles war dortgeblieben, schwarz auf weiß. Jeder Schrei. Jeder Blutstropfen.
    Nicht dass das Lodo sonderlich geholfen hätte. Er

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