Die Toten der Villa Triste
– wo sie sich anzupassen versuchten, indem sie so taten, als wären sie nicht mehr die, die sie eben noch gewesen waren. Wieder andere waren ehrlicher. Sie versuchten sich als Heckenschützen und mussten Straße für Straße aus ihren Verstecken getrieben und erschossen werden. Am meisten verstörte uns die Nachricht, dass Mario Carita entkommen war. Er hatte offenbar bereits im Juli sein Lager verlegt und »arbeitet« inzwischen von Padua aus. Neuigkeiten von Mama, auf die Issa und ich so inständig gehofft hatten, erreichten uns bestenfalls tröpfchenweise. Issa fand heraus, dass sie nach San Verdiana gebracht worden war, aber mehr erfuhren wir trotz aller Bemühungen nicht. Dafür fand ich etwas über jemand anderen heraus – Lodovico. Er schickte mir, kaum zu glauben, einen Brief.
Natürlich war er nicht an Chiara Bevanelli adressiert. Er war an das Mädchen gerichtet, das ich früher gewesen war. Als Issa ihn mir in die Hand drückte, blieb ich wie versteinert stehen und starrte auf den Umschlag. Ich glaube, wenn sie nicht bei mir gewesen wäre, hätte ich den Gasbrenner angezündet und den Brief ungelesen verbrannt.
Der inzwischen abgegriffene und schmutzige Umschlag lag auf dem Tisch. Es war ein warmer, spätsommerlicher Herbsttag. Die Nächte waren frisch geworden, aber die Sonnenstrahlen lagen immer noch wie warmer Honig auf dem Fensterbrett und den durchgetretenen Bodendielen. Draußen ratterte eine Straßenbahn vorbei. Issa lehnte in der Küchentür und beobachtete mich. Inzwischen war ihre Schwangerschaft nicht mehr zu übersehen, aber das schien sie nicht zu beeinträchtigen. Um keinen Preis der Welt würde sie sich über geschwollene Knöchel oder Rückenschmerzen beklagen. Sie arbeitete als Kurier und erfüllte nebenbei andere Aufträge, glaube ich, obwohl ich das nicht mit Sicherheit weiß – und sie mir das auch nicht verraten hätte, falls ich sie gefragt hätte. Manchmal blieb sie tagelang verschwunden. An jenem Morgen war sie aus Bologna zurückgekommen und hatte nicht nur meinen Brief mitgebracht, sondern auch Neuigkeiten darüber, was am Monte Sole passiert war.
Die deutschen Fallschirmjäger und die Waffen-SS hatten wieder einmal eines ihrer berüchtigten rastrellamenti durchgeführt, diesmal gegen die Stella Rossa, die im Frühjahr so beherzt und so erfolgreich gegen die Deutschen gekämpft hatte – ein Sieg, den man ihnen nicht verziehen hatte. Die Offensive war Ende September gestartet worden. Die umzingelten Partisanen hatten ausgeharrt, weil sie gehofft hatten, dass die Alliierten, die nicht einmal einen Tagesmarsch weiter südlich standen, sie unterstützen würden. Aber die Hilfe war ausgeblieben. Sie wurden ausgelöscht. Alle Dörfer in der Umgebung wurden zerstört. Zweihundert Zivilisten, die in einer Kirche Zuflucht gesucht hatten, wurden auf einem Friedhof zusammengetrieben und mit dem Maschinengewehr niedergemäht. Ich schätzte, dass Issa im vergangenen Jahr oft durch diese Gegend gekommen war, wenn sie ihre »Päckchen« abgeliefert hatte, und an jenem Morgen erzählte sie mir zum ersten Mal, dass sie Emmelina mehrmals auf dem Bauernhof ihres Bruders in der Nähe eines Dorfs namens Caprara besucht und manchmal auch dort übernachtet hatte. Als sie gehört hatte, was in Marzabotto passiert war, hatte sie Bologna verlassen und sich dorthin durchgeschlagen, um die Folgen des Massakers mit eigenen Augen zu sehen. Als sie dort ankam, wurden immer noch Menschen beerdigt. Auf den Bauernhöfen lag das tote Vieh herum. Häuser und Ställe waren zerstört, die ausgeweideten Dachstühle ragten flehend in den Himmel. Emmelina und ihr Mann, ihr Bruder und ihre gesamte Familie waren unter den Toten. Man hatte ihre Leichen auf dem Bauernhof gefunden, auf einem Haufen in einer halb niedergebrannten Scheune. Nirgendwo war etwas von Emmelinas Nichte zu sehen, jenem stämmigen, stillen Mädchen, dem Mama damals »lange Finger« unterstellt hatte, weil es angeblich Zigaretten und einen Teelöffel stibitzt hatte. Manche der Überlebenden glaubten, dass sie womöglich versucht hatte, nach Florenz zurückzukehren.
Soweit es sich feststellen ließ, waren fast achthundert Menschen ermordet worden. Größtenteils Zivilisten. Zweihundert davon gehörten zur Stella Rossa, und viele davon hatte Issa gekannt. Ein paar, darunter der Anführer Lupo, waren entkommen und versteckten sich jetzt in Bologna. Einer dieser Überlebenden hatte ihr Lodovicos Brief übergeben. Er war von Hand zu Hand
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