Die Toten der Villa Triste
oder zumindest mit einer Reihe von Buchstaben und Zahlen versehen. Er strich das Plastik glatt und las die schlecht gedruckte Schlagzeile. Es war eine andere Zeitung, doch auch sie stammte vom Februar 1944. Er legte sie weg und nahm eine dritte in die Hand. Diese stammte vom Juni 1944. Auch dieses Datum hatte ihm nichts gesagt, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Jetzt war es der Monat, in dem Radio Julia aufgeflogen war. In dem die Familie Cammaccio verhaftet und erschossen oder deportiert worden war. In Gedanken zuckte er kurz mit den Achseln. Il Corvo hatte die Frauen gekannt; vermutlich hatte er viele, wenn nicht alle gekannt, die an jenem Tag in der Via dei Renai verhaftet worden waren. Warum sollte er sich also nicht dafür interessieren, was damals passiert war? Er griff nach dem vierten Flugblatt. Es trug wieder ein anderes Datum, war aber ebenfalls aus dem Juni 1944. Genau wie das fünfte. Das sechste und siebente stammten wiederum vom Februar 1944.
Pallioti richtete sich auf. Jetzt erkannte er noch etwas, dem er bis dahin keine Beachtung geschenkt hatte. Einige der Tüten waren versiegelt. Andere mit Klebeband verschlossen. Die wenigsten waren geöffnet worden. Nur eine oder zwei und dazu die Hülle, in der das kleine rote Buch gelegen hatte.
Das bedeutete, dass Giovanni Trantemento seine Abende keineswegs damit zugebracht hatte, von seinen eigenen Heldentaten oder jenen der anderen GAP-Mitglieder zu lesen. Er hatte diese Zeitungen überhaupt nicht gelesen. Bestenfalls hatte er sie, so wie jetzt Pallioti, durch die Plastikhülle hindurch studiert. Dann hatte er sie wieder in seinen Safe eingeschlossen.
Die nächsten fünf Minuten brachte Pallioti damit zu, Giovanni Trantementos Sammlung von Partisanenzeitungen in zwei Stapel zu sortieren. Insgesamt waren es siebenundzwanzig Stück. Als er fertig war, lagen auf einem Stapel alle Zeitungen aus dem Februar 1944. Auf dem anderen die vom Juni. Zwölf auf dem einen Stapel, fünfzehn auf dem anderen, kein Flugblatt war übrig geblieben. Er betrachtete die beiden Stapel. Dann holte er seine Brille heraus. Bei näherer Betrachtung stellte er fest, dass diese zerfledderten kleinen Partisanenschriften nicht ausschließlich aus Florenz stammten. Ein paar kamen aus Bologna. Eine aus Genua. Eine sogar aus dem entfernten Turin. Aber alle waren in einem der beiden Monate gedruckt worden. Nicht eine davon stammte vom Mai, Januar oder Juli. Und keine einzige aus den Jahren 1943 oder 1945.
Pallioti griff nach dem leeren Beutel, in dem Caterinas Tagebuch gesteckt hatte. Wieder besah er sich das zerschlissene Klebeband und die Aufschrift PJ 653, die mit einer Art Wäschestift auf den Beutel aufgetragen worden war. Er hatte einen nagenden Verdacht. Schnell blätterte er durch die Flugschriften, bis er gefunden hatte, was er suchte. Er hatte recht gehabt. Abgesehen von den handschriftlichen Angaben war einer der Beutel oben in der Ecke mit einem kleinen, schmutzig roten Etikett beklebt. Er betrachtete es genauer.
Zum Glück sah er doch nicht so schlecht, wie er manchmal befürchtete.
Pallioti musste fast eine Stunde Giovanni Trantementos Bankauszüge durchforsten, bevor er das Gesuchte gefunden hatte. Er bezweifelte, dass der alte Mann so eine Transaktion per Kreditkarte getätigt hatte. Laut Enzo hatte er zwar eine besessen, aber praktisch nie eingesetzt. Bargeld andererseits, das er reichlich besaß, wäre vielleicht genehmer gewesen. Und war vielleicht auch eher verwendet worden. Auktionshäuser – vor allem solche, die mit jenen Materialien handelten, für die Trantemento sich interessierte – bestanden bisweilen auf Barzahlung. Aber nicht immer. Zum Glück, weil Pallioti andernfalls in einer Sackgasse gelandet wäre. Sein Instinkt sagte ihm, dass diese Sammlung vor langer Zeit angelegt worden war. Also hatte er 1960 angefangen, als Giovanni Trantemento noch nicht in Florenz gewohnt, sondern als relativ junger Mann sein Geschäft in Neapel aufgebaut hatte. Erst im Jahr 1965 entdeckte er den ersten an Patria Memorabilia ausgestellten Scheck. Weitere folgten. 1975 schienen die Zahlungen wieder aufzuhören.
Pallioti zog sein Handy heraus und rief Guillermo an. Dann blieb er vor dem Tisch stehen, trommelte mit den Fingern und wartete darauf, dass sein Sekretär das Gesuchte fand.
Patria Memorabilia war wohl nie ein besonders lukratives Unternehmen gewesen. Pallioti konnte sich vorstellen, dass die Konkurrenz in Sachen Kriegsdevotionalien ziemlich groß war. Mit dem
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