Die Toten der Villa Triste
der Ausgezeichneten hatte er bald herausgefunden. Seine Freundin hatte ihm geholfen, die Adressen herauszusuchen. Sie kannte sich verdammt gut mit dem Computer aus. Sie war sowieso ziemlich schlau. Außerdem hatte sie die Stempel angefertigt und war auf die Idee gekommen, rote Tinte zu nehmen, weil die wie Blut aussah.
Cesare D’Aletto hatte bereits ermittelt, dass weder Bruno noch seine geniale Freundin ein Alibi für Mittwoch, den ersten November, vorweisen konnten. Noch war nicht ersichtlich, ob die beiden an diesem Vormittag um elf Uhr in Florenz gewesen waren, aber Enzos Leute überprüften das bereits. Am folgenden Wochenende waren sie allerdings bei den Eltern des Mädchens gewesen, die praktischerweise in der Nähe von Bari wohnten. Bruno behauptete zwar, sie hätten den ganzen Tag über eine »Motorradtour« unternommen, aber bislang hatte er sich nicht erinnern können, wohin sie gefahren waren. Cesare D’Aletto war zurzeit damit beschäftigt, weitere Mitglieder der Arischen Söhne aufzutreiben und gleichzeitig nach der Freundin zu fahnden, um festzustellen, ob diese sich an mehr erinnern konnte. Er beabsichtigte, Bruno Torricci am folgenden Tag noch einmal zu vernehmen, und bis dahin wäre Enzo bei ihm in Brindisi. Er würde noch am späten Abend hinfliegen.
Der Bürgermeister war hocherfreut. Der Pressesprecher war bereits dabei, eine Erklärung aufzusetzen. Selbst der ermittelnde Richter war glücklich. Pallioti schloss die Akte und fragte sich, warum er als Einziger sich nicht freute, den Fall abschließen zu können. Etwas drückte ihn wie ein Steinchen im Schuh. Er wandte sich vom Bildschirm ab, auf dem das Band ein weiteres Mal abgespielt wurde, und wanderte ins Nebenzimmer, wo Giovanni Trantementos und Roberto Roblinos Papiere und Adressbücher und Bankauszüge und Briefe – alles, was irgendwie interessant sein könnte, ihre Einkaufslisten eingeschlossen – auf zwei langen Tischen ausgebreitet lagen.
Die Geldbündel wurden in der Asservatenkammer verwahrt, aber alles andere war mehr oder weniger unverändert. Ganz am Ende des Tischs sah er die Plastikbeutel, in denen die zerknitterten und bröseligen Seiten der Partisanenzeitungen lagen. Pallioti schlenderte hinüber und begriff, gerade als er nach einem der Beutel griff, was ihm keine Ruhe lassen wollte. Er hatte bei der Lektüre von Caterinas Tagebuch ständig darauf gewartet, dass sie irgendwann mit Il Corvo intim wurde, dass etwas geschah, das erklärte, wie und warum Giovanni Trantemento ihr Tagebuch in seinem Safe liegen hatte. Aber mittlerweile war sie in Mailand und Il Corvo … Wer wusste das schon? Nach der letzten Krankenwagenfahrt war er in ihren Erzählungen nicht wieder aufgetaucht. Damals hatte sie ihn nach seiner Familie oder seiner Schwester fragen wollen.
Pallioti zog das rote Buch aus der Tasche, in der er es inzwischen immer trug, und blätterte durch die dicht beschriebenen Seiten. Genau, dort stand es, ein bisschen verschmiert, aber schwarz auf weiß – denn dies waren die letzten Worte, die Il Corvo und ich wechselten . Der Eintrag stammte vom Juni 1944.
Er steckte das Buch wieder ein, nahm einen der in Plastik gepackten Zeitungszettel vom Tisch und betrachtete ihn genauer. Das Datum darauf war ebenfalls verschmutzt, aber dennoch erkennbar, selbst durch das Plastik hindurch. Februar 1944. Als Pallioti die Papiere beim ersten Mal in Augenschein genommen hatte, hatte ihm das Datum nichts gesagt. Jetzt war dies für ihn der Monat, in dem Issa niedergeschossen worden war.
Also, dachte er, dass ein alter Mann ein Erinnerungsstück aufbewahren möchte, ist an sich nicht ungewöhnlich. Die Schießerei vor dem Pergola-Theater, Issas – oder genauer gesagt Lilias – Flucht und seine eigene gelungene Flucht dank des Unfalls auf dem Weg zum Bahnhof waren der Grund dafür, dass Giovanni Trantemento, einst bekannt als Il Corvo, einen Orden verliehen bekommen hatte. So hatte es seine Schwester erklärt – »Er rettete einer Frau das Leben – er lief auf die Straße und half ihr, nachdem man auf sie geschossen hatte. Er wurde verhaftet und verprügelt und konnte entkommen. Trotzdem rettete er ihr damit das Leben«. Derselbe Vorfall hatte ihn veranlasst, seinerseits Roberto Roblino, genannt Beppe, für einen Orden vorzuschlagen. Selbst wenn er nie darüber gesprochen hatte, war dies doch einer der entscheidenden Augenblicke in seinem Leben gewesen.
Pallioti griff nach dem nächsten Beutel. Wie alle anderen war er nummeriert
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