Die Toten der Villa Triste
den Juni 1944.«
»Wann hat das angefangen?«
Der alte Herr nickte. »1965. Ich glaube, er war damals gerade in die Stadt gezogen oder besser gesagt zurückgekehrt. Signor Trantemento suchte mich auf. Ich hatte damals einen recht guten Ruf als Forscher. Sammler. Ich kaufte private Sammlungen auf, den Sperrmüll aus den Speichern der Menschen. Zu jener Zeit wurde viel nicht abgeholter Besitz versteigert, der seit 1945 in den städtischen Kellern gelagert worden war und dort Staub angesetzt hatte. Nachlässe. Briefe. Nicht abgeholte Habseligkeiten. Aus Krankenhäusern. Oder ausgebombten Ruinen. Fotos. Fundsachen, die dem Roten Kreuz übergeben worden waren. Schließlich wurde der Platz gebraucht. Gebäude wurden abgerissen, neue Bibliotheken errichtet. Neue Museen. Man behielt, was man für halbwegs interessant hielt, alles andere wurde mehr oder weniger verschenkt. Händler, Sammler, Auktionshäuser erstanden den Großteil davon.«
Pallioti nickte. »Und Signor Trantemento?«
»Er bat mich, nach allem Ausschau zu halten, was ihn möglicherweise interessieren könnte. Wie gesagt, es war ein schmales Gebiet, aber er war bereit, für das, was er erwerben wollte, anständig zu bezahlen.«
»Holte er die Sachen hier ab?«
»Manchmal. Manchmal wurden sie ihm geliefert. Über die Jahre hinweg begann er, mir zu vertrauen. Ich glaube nicht, dass er je etwas nicht haben wollte, das ich für ihn aufgetrieben hatte.«
»Er war also nicht besonders wählerisch?«
»O doch.« Signor Cavicalli nickte. »Verstehen Sie mich nicht falsch. Er war höchst wählerisch. Er interessierte sich ausschließlich für diese beiden Themen. Februar 1944. Juni 1944. Und ausschließlich Florenz. Und vor allem für den Schusswechsel vor dem Pergola-Theater. Außerdem für alles, absolut alles, was mit Radio Julia zu tun hatte.«
Es gab da ein festes Muster, weich und regelmäßig wie ein Pulsschlag. Pallioti spürte Severinos Blick, aber er sah unverwandt in das blasse Gesicht seines Vaters.
»Alles, was mit der Schießerei vor dem Theater und Radio Julia zu tun hatte?«
»Ganz recht. Wenn ich etwas darüber fand, kaufte er es, ohne zu diskutieren, an. Oft auch unbesehen. Er verließ sich auf mein Urteil und versuchte kein einziges Mal zu handeln. Er wollte kein Sekundärmaterial, wohlgemerkt.« Signor Cavicalli schüttelte den Kopf. »Die Spekulationen Dritter interessierten ihn nicht. Er interessierte sich nur für Originalquellen.«
»Was glauben Sie, warum?«
Die Hände flatterten auf und senkten sich wieder. »Jeder von uns hat seine kleinen Marotten.«
Signor Cavicalli sah Pallioti scharf an. Mit seinem klaren Blick tastete er seine Gesichtszüge ab wie ein Blinder mit den Fingern.
»Wenn Sie gestatten, Ispettore«, sagte er nach einer Weile. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dass ich kühn meine Meinung äußere? Als Sammler?«
» Certo , Signore.« Pallioti lehnte sich zurück und beobachtete ihn. »Es wäre mir eine Ehre.«
»Nun«, nickte der alte Herr. »Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass die Menschen mehr oder weniger aus zwei Gründen sammeln. Weil sie möchten, dass ihre Mitmenschen etwas Bestimmtes erfahren. Oder weil die Mitmenschen etwas nicht erfahren sollen.«
»Und Signor Trantemento?«
Die grünen Augen blinzelten. Pallioti hörte sich atmen. Es war das einzige Geräusch im Raum.
»Wie viel haben Sie ihm verkauft?«, fragte er schließlich.
»In all den Jahren?« Die dünnen Schultern zuckten und hüpften wie knochige Flügel unter dem karierten Tweed. »Nicht allzu viel. Es gab nicht viel darüber. Irgendwann versiegten die Zuflüsse. Wie gesagt, er interessierte sich ausschließlich für Augenzeugenberichte, Originalquellen. Vielleicht zwei Dutzend Partisanenflugschriften? Die stellten den Löwenanteil. Natürlich hielt ich auch immer nach Briefen Ausschau.«
»Aber Sie haben keine gefunden?«
»Nein.«
»Was ist hiermit?« Pallioti holte das kleine rote Buch aus der Tasche und legte es auf die polierte Tischplatte. Er hatte das Gefühl, dass es schon einmal hiergelegen hatte. »Haben Sie ihm das hier auch verkauft?«
Der alte Herr griff nicht danach. Er sah kurz auf den Einband und nickte.
»Natürlich«, sagte er. »Ich war ganz aufgeregt, als ich es fand. Ich rief ihn sofort an. Er schickte einen Scheck, ohne es auch nur angesehen zu haben. Und er zahlte gut dafür.«
»Warum?«
Erstmals erschien ein Lächeln auf Signor Cavicallis Gesicht. »Ich nehme an«, sagte er, »es enthielt etwas, das ihn
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