Die Toten der Villa Triste
Verkauf von alten Zeitungen, Zugfahrplänen oder Briefen machte kaum jemand ein Vermögen. Und nachdem es mittlerweile das Internet gab, wunderte es ihn, dass überhaupt noch ein Laden überlebte. Dieser hier tat es jedenfalls, wenn auch mühsam. Der Auslage in dem kleinen und ungeheuer staubigen Schaufenster zufolge war es hauptsächlich eine Buchhandlung. Der Mann, der Guillermos Anruf entgegengenommen hatte, hatte sein Geschäft mit dem Begriff »Suchagentur und Auktionshaus« umschrieben, das auf »Material zum Partisanenkampf« spezialisiert sei.
Der Laden selbst, wenn man ihn denn so nennen wollte, lag tief verborgen in einem Labyrinth von Gassen hinter Santa Croce. Giovanni Trantemento hatte zu Fuß höchstens zwanzig Minuten gebraucht, um von seiner Wohnung hierherzugelangen. Pallioti seinerseits hatte den Weg von der Polizeizentrale in knapp einer halben Stunde zurückgelegt. Er hatte schon die Hand erhoben, um die fleckige Messingklingel zu drücken, als sich die Tür wie von Zauberhand öffnete. Eine helle Katze schlüpfte durch den Spalt, sah mit großen goldenen Augen zu ihm auf und huschte dann in die Gasse.
»Sie ist ein Luder«, hörte er eine Stimme. »Wir füttern sie dick und fett, aber sie geht trotzdem jagen.«
Dem Kommentar folgte lautes Lachen. Im Laden war es so dunkel, dass Pallioti auf den ersten Blick nicht erkennen konnte, woher es kam. Dann tauchte ein Gesicht auf, das hinter der Tür hervorsah. Der Besitzer war wahrscheinlich älter, als er aussah. Seine Haut war bleich und gespannt wie die eines Menschen, der in den letzten zwanzig Jahren nicht mehr an die frische Luft und erst recht nicht in die Sonne gekommen war.
»Nur herein«, sagte er.
Als sich Palliotis Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er, dass der Laden voller war, als man von außen meinte, und dazu eindeutig besser geordnet. Die Rückwand war mit Regalen vollgestellt, in denen katalogisierte Stapel von Papieren in den inzwischen vertrauten Plastikhüllen lagerten. An einer Wand reihten sich Bücherregale. An der anderen hingen Plakate. Zum Teil waren es von den Deutschen gedruckte Fahndungsplakate im Stil des Wilden Westens, zum Teil verschwommene Fotografien, die möglicherweise Partisanenführer zeigten. Andere enthielten Ankündigungen der CLN; oder es waren Verlautbarungen der Partisanenregierungen aus den wenigen kurzlebigen »befreiten Republiken«, die in den Wintern der Jahre 1943 oder 1944 erblüht und dann spurlos im Chaos versunken waren, sobald die Alliierten vorrückten und sich die Deutschen zurückzogen.
Daneben gab es gerahmte Fotografien, zum Teil von Einzelpersonen, zum Teil von den Garibaldi-Brigaden – junge Menschen mit dünnen, angespannten Gesichtern und Munitionsgürteln über den Schultern. Auf einigen Fotos waren Frauen abgebildet. Eine Gruppe mit Fahrrädern trug ein Plakat, auf dem Gruppi Difesa Della Donna stand. Ein weiteres Trio in dunklen Röcken marschierte in Formation, Scharfschützengewehre in den Händen. Eine Frau mit Barett lag hinter einem kleinen Wall, eine Hand auf ein Bren-Gewehr gestützt, den Blick konzentriert in die Ferne gerichtet. Auf manchen Fotos waren nur Leichen zu sehen. Drei Menschen hingen an einem Galgen und schwankten in einer unsichtbaren Brise, während ein Mädchen mit Fahrrad zu ihnen aufsah. Einige Männer mit auf dem Rücken gefesselten Händen lagen zusammengesackt und tot vor dem Holzzaun, an dem sie aufgestellt und erschossen worden waren. Ein weiteres Foto zeigte einen Schützengraben, aus dem Arme und Beine ragten und der mit mehr Leichen gefüllt war, als Pallioti zählen konnte.
»Sant’ Anna Stazzema, August 1944, das 35. Panzergrenadierregiment. Fünfhundertsechzig Zivilisten wurden damals ermordet.«
Der Mann, der sich als Severino Cavicalli vorstellte, stand genau hinter ihm.
»Entschuldigen Sie die Beleuchtung«, sagte er. »Oder genauer gesagt die fehlende Beleuchtung. Wir lassen das Licht gedämpft, weil viele unserer Artikel lichtempfindlich sind. Gibt es denn irgendetwas, das Sie besonders interessiert?« Er legte den Kopf schief und blinzelte mit den ungeheuer grünen Augen.
»Nein, nein.« Pallioti drehte sich um. Ehrlich gesagt gab es vieles, was ihn hier interessierte, aber das würde warten müssen. »Leider«, sagte er, »bin ich in offizieller Mission hier.«
Signor Cavicalli warf einen Blick auf den vorgezeigten Polizeiausweis und nickte.
»Ach ja. Wenn ich mich recht entsinne, sagte Ihr Mitarbeiter, Sie
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