Die Toten der Villa Triste
habe ich damals tatsächlich geglaubt, dass er es so geplant hatte. Oder ich gab mich zumindest der Illusion hin. Als wäre die ganze Sache mein Geburtstagsgeschenk. Darum erinnere ich mich so genau. Gio kam morgens an. Es war am Freitag. Er erklärte uns, dass wir noch am selben Abend den Zug nehmen würden. Mama war natürlich wütend. Weil wir kaum Zeit zum Packen hatten, aber für mich war …«
»Und was war das für ein Datum?«, fiel Pallioti ihr ins Wort.
»Ach so. Entschuldigen Sie bitte, Ispettore. Das war im Juni. Am Freitag, dem 16. Juni 1944.«
Pallioti blickte durch die leere Eingangshalle und durch die Glastüren. Unter den peitschenden Regen hatten sich ein paar Graupeln gemischt. In den Bergen würde wahrscheinlich Schnee fallen, der jetzt die braunen, hoch gelegenen Felder überzuckerte und die uralten Steine und Wege der Via degli Dei bestäubte.
»Sind Sie sich ganz sicher, Signora Valacci?«
Seine Stimme war weich geworden, weich wie die Schneeflocken, die damals in die Ritzen der Unterstände geweht waren und die Fenster der Berghütten verschneit hatten, in denen sich die Partisanen vom Herbst des Jahres 1943 an und über Weihnachten hinweg bis in die bitterkalten Anfangsmonate des neuen Jahres versteckt hatten.
»Sie waren damals noch ein kleines Mädchen«, sagte er. »Und es ist schon so lange her. Es waren chaotische Zeiten. Sie könnten sich …«
»Nein, Ispettore«, fiel ihm ihrerseits Maria Valacci ins Wort. »Ich irre mich bestimmt nicht«, sagte sie nachdrücklich. »Ich war damals kein kleines Mädchen mehr, glauben Sie mir.«
Dass sie so energisch widersprach, vermutete Pallioti, rührte weniger daher, dass sie sich beleidigt fühlte, weil er ihr unterstellt hatte, sie hätte das Datum eines der wichtigsten Tage in ihrem Leben verwechseln können, sondern eher daher, dass es eben das gewesen war. Eine Erinnerung, die so prägend gewesen war, dass sich jede Einzelheit in ihrem Herzen eingegraben hatte. Die sie wie ein Gebet unzählige Male rezitiert hatte. Die sich hart und klar in ihr Gedächtnis eingemeißelt hatte wie eine Inschrift in Stein.
»Ich bin mir absolut sicher«, bekräftigte sie. »Giovanni kam am 16. Juni 1944 nach Pisa zurück und brachte uns in die Schweiz.«
27. Kapitel
Es war Freitagmorgen. Der Wetterbericht im Radio prophezeite Schauerliches. Es würde schneien. Graupeln. Hageln. Das Ende der Welt! Pallioti stand unbewegt da. Er schaute aus seinem Bürofenster auf die Piazza, aber er sah sie nicht. Vor seinen Augen standen die korrekten Buchstaben in den Aktenbüchern aus der Villa Triste und, aus einem unerfindlichen Grund, Cavicallis Katze.
Sie war fleckig und vielfarbig wie ein Puzzle gewesen, mit großen, kugelrunden goldenen Augen. Als sie wieder in den Laden gehuscht war, hatte sie sich so schnell bewegt, dass sie wie ein Schatten vorbeigezogen war. Hätte er nicht gespürt, wie sie an seinem Bein vorbeistrich, hätte er sie vielleicht gar nicht bemerkt.
Etwas entging ihm, und ihm wollte einfach nicht in den Kopf, was es war.
Er trommelte mit den Fingern aufs Fensterbrett und gestand sich widerwillig ein, dass es wahrscheinlich belanglos war. Als er Enzo am Mittwochabend angerufen hatte, direkt nachdem dessen Flugzeug im wärmeren, trockeneren Süden gelandet war, und ihm die Namen genannt hatte, die er ausgegraben hatte, hatte sich Enzo zwar dankbar, aber nicht besonders interessiert gezeigt. Höflich, aber deutlich hatte Enzo Saenz ihm klargemacht, dass es ihm egal war, wie Giovanni Trantemento oder Roberto Roblino vor sechzig Jahren geheißen hatten. Er interessierte sich für die Gegenwart.
Cesare D’Aletto hatte währenddessen die Genehmigung eingeholt, den charmanten Bruno Torricci und seine nicht minder charmante Freundin weitere achtundvierzig Stunden im Polizeigewahrsam zu behalten. Sie hatten einen Zeugen aufgetrieben, der die beiden an jenem Samstagnachmittag, an dem Roberto Roblino getötet worden war, keine zehn Kilometer von dessen Haus entfernt in einer Bar gesehen hatte. Außerdem hatten sie in Bruno Torriccis Portemonnaie eine auf den 3. November datierte Quittung gefunden, der zufolge er bei einem Juwelier in Bari ein silbernes Armband für dreihundertzwanzig Euro erstanden und bar bezahlt hatte. Wichtiger war jedoch, dass sie auch eine Spur zu der Waffe gefunden hatten.
Als Cesare D’Aletto eine Woche zuvor die forensischen Berichte aus Roblinos Haus erhalten hatte, war ihm etwas Merkwürdiges aufgefallen. Zu den wenigen
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