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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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Kopf.
    »Es tut mir leid, aber ich habe Sie gewarnt. Die Unterlagen aus der Villa Triste sind unvollständig. Sie reichen nur bis zum April. Bis zum 23. April, um genau zu sein.« Sie lehnte sich zurück und streckte wieder die Finger. »Das ist wirklich frustrierend. Immer wieder stoße ich gegen diese Mauer«, erklärte sie. »Wieso sie damals manche Akten vernichteten und andere nicht.« Die Signora setzte die Brille ab und sah ihn an. »Bei unseren Geschäften spielt der Zufall eine größere Rolle, als wir uns eingestehen möchten. Ich nehme an, kurz vor dem Abzug waren die jüngsten Unterlagen einfach am schnellsten zur Hand und wanderten darum zuerst ins Feuer. Wir sollten dankbar sein, dass sie keine Zeit hatten, alles in Flammen aufgehen zu lassen.«
    Während sie das sagte, erschlaffte ihr Gesicht plötzlich vor Müdigkeit. Pallioti versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen, und stand auf. Was es nicht mehr gab, gab es nicht mehr. Er hatte sie lang genug aufgehalten.
    »Ich habe Ihnen schon zu viel Zeit gestohlen«, sagte er. »Schon wieder. Noch einmal vielen Dank.«
    »Keine Ursache. Es tut mir nur leid, dass wir Ihnen nicht weiterhelfen konnten.«
    »Ganz im Gegenteil, Signora. Sie haben mir sehr wohl geholfen.«
    »Also, das freut mich.«
    Sie stand ebenfalls auf, massierte wieder ihren steifen Arm und kam hinter dem Schreibtisch hervor, um seinen Mantel aus dem Schrank zu holen. »Ist es wichtig?«, fragte sie. »Wonach Sie suchen?«
    Einen Moment lang war er versucht, ihr alles offenzulegen – das kleine rote Buch aus der Brusttasche zu ziehen und ihr von Signor Cavicalli, von Eleanor Sachs, von den Papieren im Safe zu erzählen und sie dann zu bitten … Worum eigentlich? Um ihren Trost? Verständnis? Darum, dass sie ihn nicht für völlig verrückt hielt?
    »Ganz ehrlich?« Pallioti sah sie an. »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich höchstens für mich.«
    »Nun«, lächelte sie. »Das ist nicht zu vernachlässigen.« Sie öffnete die Schranktür und sah ihn über die Schulter an. »Können Sie mir einen Gefallen tun?«, fragte sie, während sie seinen Mantel vom Bügel nahm.
    » Certo. Wenn es in meiner Macht steht.«
    »Können Sie mir Bescheid sagen, wenn Sie sich entschieden haben, ob es wichtig ist oder nicht – für Sie oder jemand anderen –, oder wenn sich die Sache geklärt hat, was auch immer zuerst eintrifft?«
    Er nahm ihr den schweren Mantel ab.
    »Natürlich«, sagte er. »Natürlich, Signora Grandolo. Es wird mir ein Vergnügen sein.«
    »Dann ist es abgemacht.«
    Sie streckte ihm die Hand entgegen, lächelte, und eine Sekunde lang hatte Pallioti das Gefühl, nie ein schöneres Gesicht gesehen zu haben.

    Als Pallioti aus dem Lift stieg, sah er sich in der leeren Eingangshalle um. Die dicken Fensterscheiben dämpften das Rauschen des Regens draußen. Er zog das Handy aus der Tasche, klappte es auf, tippte eine Nummer ein und beobachtete, wie der Regen in einer Bö gegen das Gebäude peitschte und wütend gegen die Glasscheiben trommelte, bevor er vom nächsten Windstoß weitergetrieben wurde. Das Läuten hallte in seinem Kopf wider.
    Sechs, sieben, acht. Gerade als er auflegen wollte, nahm Giovanni Trantementos Schwester den Hörer ab.
    »Pronto.«
    Er nannte seinen Namen, und sie stockte.
    »Haben Sie …?«, fragte sie. »Ich wollte sagen, wie schön, von Ihnen zu hören. Gibt es …?«
    Die Worte blieben im Äther hängen und klangen viel weiter entfernt als Rom. Sofort sah er den großen, düsteren Raum vor sich, überladen mit Möbeln, Brokat und Stickereien, und den Flügel, der unter den vielen Fotografien der Toten einzuknicken drohte.
    »Nein, nein«, sagte er schnell. »Bitte verzeihen Sie, Signora, aber ich kann Ihnen noch nichts Endgültiges mitteilen.«
    »Ach.«
    Er konnte nicht feststellen, ob sie erleichtert oder enttäuscht klang. Wahrscheinlich beides. Den Angehörigen den Namen eines Mörders mitzuteilen war immer ein zwiespältiges Erlebnis. Im Gegensatz zu Signora Grandolo war er nicht überzeugt, dass Wissen befreiend wirkte. Eher wechselte man dadurch von einem Gefängnis in ein neues. Man tauschte die leere Leinwand der Ignoranz gegen das grässliche Antlitz der Realität.
    »Wir machen Fortschritte«, wand sich Pallioti. »Und bitte verzeihen Sie die späte Störung. Aber ich hatte gehofft, dass Sie mir bei etwas helfen könnten. Es geht dabei um Ihren Bruder.«
    »Ja«, sagte sie schnell. »O ja. Natürlich.«
    »Wenn ich mich recht

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