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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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zerstört werden, aber auch die Kirche nahe unserem Haus wurde eines frühen Morgens von einer Bombe getroffen. Es tat einen ohrenbetäubenden Schlag wie bei einem Vulkanausbruch. Issa schnappte sich das Baby, dann rannten wir nach unten und auf die Straße, weil wir nicht sicher waren, ob unser altes Gebäude der Druckwelle standhalten würde. Es überstand den Angriff, aber die Arztpraxis, in der ich arbeitete, hatte weniger Glück. Sie wurde zwei Tage später komplett zerstört. Ich blieb nur verschont, weil ich erkältet und darum früher nach Hause gegangen war.
    Als ich am nächsten Tag hinging, um mir die Ruine anzusehen, traf mich die Trauer wie ein Schlag in den Magen. Das bezaubernde Gebäude lag in Schutt und Asche. Es gab keine Überlebenden. Es gab gar nichts mehr.
    Wir waren erst seit Kurzem in Mailand, aber während jener Monate hatte ich zum ersten Mal tagein, tagaus mit einer Gruppe von Widerstandskämpfern gearbeitet, und zwar in jener Praxis, wo jeder wusste, was wir alle taten – wohin unsere überschüssigen Verbandsmaterialien gingen, was die Nächte bringen würden. Ich kann nicht sagen, dass diese Menschen meine Freunde waren – schließlich wusste keiner davon, wie ich wirklich hieß und woher ich kam, und wahrscheinlich wusste ich genauso wenig ihre wahren Namen –, aber zum ersten Mal hatte ich diese Kameradschaft erlebt, dieses Vertrauen, das Issa nicht nur bei Carlo und Rico, sondern auch bei den anderen in ihrer GAP-Einheit und in den Bergen empfunden haben muss. Als ich an diesem Abend heimging, wurde mir erstmals wahrhaft bewusst, wie tief der Verrat von Radio Julia sie getroffen haben muss, wie einsam sie sich danach gefühlt haben muss, wie verlassen sie sich immer noch vorkommen muss, wenn sie daran denkt.
    Der Gedanke machte mich so krank, dass ich ihr in jener Nacht wieder einmal beinahe alles erzählt hätte. Um ein Haar hätte ich ihr gebeichtet, dass wir nicht von jemandem aus dem inneren Kreis verraten wurden – dass nicht sie, sondern ich allein die Schuld trug. Aber wieder einmal war ich im entscheidenden Moment zu feige. Ich brachte beim besten Willen nicht die Kraft auf. Stattdessen schwor ich, wie schon so oft, dass ich bis an mein Lebensende alles für sie tun würde, um das wiedergutzumachen.
    Die Gelegenheit dazu kam früher, als ich gedacht hätte.
    Ich hatte keine Arbeit mehr. Ich konnte nirgendwohin. Ich wollte freiwillig in einem Krankenhaus oder einer Klinik mitarbeiten, aber stattdessen bat mich Issa, ich solle mich um das Kind kümmern. Noch in diesem Frühling, wahrscheinlich schon im Lauf des nächsten Monats, werden die Alliierten einen weiteren Versuch unternehmen, die Gotenlinie zu durchbrechen. Alle glauben, dass es ihnen diesmal gelingen wird. Aber wir wissen auch, dass die Deutschen mit dem Rücken zur Wand stehen und sich mit aller Kraft wehren werden. Sie haben nichts zu verlieren.
    Informationen sind alles, und natürlich haben die Alliierten längst nicht genug davon. Wieder einmal müssen sie genau wissen, wo sich jede MG-Stellung befindet, wo Panzerminen vergraben sind, welche Gleise vermint wurden. In den Bergen ist das besonders schwer herauszufinden. Issa hat mir erzählt, dass die Truppen, die rund um Monte Sole festsitzen, im Lauf des vergangenen Monats versucht hätten, deutsche Soldaten gefangen zu nehmen, um sie zum Reden zu bringen. Diese Anstrengungen waren zwar nicht völlig vergeblich, trotzdem sind Spione viel effektiver – Spione, die sich in den Bergen auskennen und sich nahe an die deutschen Stellungen heranschleichen können.
    Als sie mir das erzählte, wollte ich im ersten Moment protestieren. Nein sagen. Sie anflehen, dass das zu gefährlich sei. Sie anbetteln, es nicht zu tun. Dann sah ich ihr in die Augen. Zum ersten Mal, seit das Kind geboren wurde, sah ich sie wieder leuchten.
    Und so bildete sich eine neue Routine heraus. Issa war nicht ständig unterwegs, aber manchmal mehrere Tage lang. Ich blieb währenddessen in der Wohnung, in unseren beiden Zimmern, und versorgte meinen Neffen.
    Er ist ein braver Junge. Schon jetzt kann ich in seinem winzigen Gesicht Issa und Carlo erkennen. Er gurgelt, wenn ich etwas vorsinge, obwohl er dabei heftig mit den Händen wedelt, als hielte er nicht allzu viel von meinen Gesangskünsten. Wenn seine Mutter zurückkommt, reckt er sich ihr entgegen. Er kann seine Ärmchen und Beinchen noch nicht kontrollieren, aber seine Augen folgen ihrer Stimme und werden groß, sobald er ihr Gesicht

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