Die Toten der Villa Triste
entsinne«, sagte Pallioti, »haben Sie mir bei unserem Treffen erzählt, dass Sie als Kind den Namen Ihres Vaters nicht in den Mund nehmen durften, nachdem er gestorben war.«
»Ja«, sagte sie. »Ja, das stimmt. Weil meine Mutter so wütend auf ihn war.«
Er konnte fast vor sich sehen, wie Maria Valacci ihren Saphirring drehte, wie sie ihn hin- und herschob, als könnte sie damit die Vergangenheit heraufbeschwören.
»Eigentlich hatte sie vor allem Angst«, sagte sie. »Sie fürchtete sich, und dafür musste sie jemanden hassen, also hasste sie einfach meinen Vater. Dafür, dass er tot war. Dass er uns allein gelassen hatte. Dass er uns im Stich gelassen hatte, wie sie es nannte. Sie war so wütend, dass sie seinen Namen nicht mehr in den Mund nehmen wollte. Sie ging sogar aufs Rathaus und änderte meinen Namen. Dass Gio sich damals weigerte, machte sie umso wütender.«
»Er weigerte sich, seinen Namen zu ändern?«
»Ja. Wenigstens anfangs«, stellte sie klar, »bis wir in der Schweiz waren. Dort änderte er ihn auch. Nicht, dass sie das glücklich gemacht hätte«, erzählte Maria Valacci. »Sie war trotzdem schrecklich gemein zu ihm.«
Nach dem zu schließen, was Antonio Valacci über seine Großmutter erzählt hatte, hätte nichts diese Frau glücklich machen können, vermutete Pallioti. Hass war der Leibtrank der Faschisten gewesen. Und sie hatte reichlich davon genossen.
Er sprach den Gedanken nicht aus. Stattdessen fragte er: »Und Trantemento? Gehe ich richtig in der Annahme, dass dies der Mädchenname Ihrer Mutter war?«
»Genau. Genau«, erwiderte Maria Valacci. »Francesca Trantemento. So hieß sie.«
»Und, Signora …« Pallioti holte tief Luft. Er fühlte sich wie ein Spieler kurz vor dem Würfeln. »Der Name Ihres Vaters?«, fragte er. »Könnten Sie mir den auch verraten?«
»Certo« , antwortete sie. »Natürlich. Er hieß Angelo. Gott sei seiner Seele gnädig. Mein Vater hieß Angelo Mario Rossi.«
Sie konnte es nicht sehen, aber Pallioti nickte.
»Also hieß«, fragte er ruhig, »wenn ich Sie richtig verstanden habe, Ihr Bruder Giovanni vor Ihrer Flucht in die Schweiz …«
»Rossi«, ergänzte sie. »Giovanni Battiste Rossi, so wurde er geboren. Als wir in der Schweiz waren, änderte er den Namen schließlich, um meine Mutter glücklich zu machen. Damit wir wieder eine richtige Familie bildeten. In der alle gleich hießen.«
Pallioti sagte nichts.
Am anderen Ende der Leitung hörte er, wie Maria Valacci zittrig Luft holte. »Eigentlich«, erklärte sie unvermittelt, »muss es kurz davor gewesen sein.«
»Kurz davor?«
»Genau. Jetzt fällt es mir wieder ein. Ja.«
»Kurz wovor, Signora?«
»Kurz vor seiner Flucht in die Schweiz natürlich. Da hat er seinen Namen geändert. Denn Sie müssen wissen …«
Er konnte hören, wie sie überlegte, wie sie die Vergangenheit aus Bruchstücken zusammensetzte und dabei gleichzeitig nach Worten suchte.
»Als er damals zu uns nach Hause kam«, berichtete sie, »aus heiterem Himmel, an jenem Tag. Wir hatten keine Ahnung, dass er kommen würde. Aber da hatte er schon alle Papiere dabei. Die Pässe, die Zugbilletts, alles. Und alle waren auf den gleichen Namen ausgestellt. Trantemento. Also musste er seinen Namen davor geändert haben, oder? Ich habe nie richtig darüber nachgedacht«, erklärte sie. »Ich war damals so aufgeregt. Aber wenn ich es mir jetzt überlege, musste er es geplant haben. Lange im Voraus, meine ich. Zugfahrkarten. Die galten damals nur für einen bestimmten Tag, für einen bestimmten Zug sogar. Und sie waren kaum zu bekommen. Die Züge wurden für andere Dinge gebraucht wie … nun gut. Für andere Zwecke. Und alle waren in Panik.«
»In Panik?«, murmelte Pallioti.
»Aber ja«, sagte sie. »Ja. Wer nur konnte, wollte um jeden Preis das Land verlassen. Weil die Front immer näher rückte. Aber das war kaum noch möglich. Weil es keine Züge mehr gab. Sie können sich also vorstellen, als Gio damals einfach so erschien, aus heiterem Himmel, mit allem in der Hand – und zwar mit unseren Namen und unseren Fotos, die allesamt stimmten –, und uns erklärte, dass wir in die Schweiz fahren würden … noch in derselben Nacht. Also, Sie können sich unser Gefühl vorstellen.«
»Nur zu gut. Und wann«, fragte Pallioti, »war das genau, Signora? Im März? Oder im April?«
»Aber nein«, antwortete sie sofort. »Es war am Tag nach meinem Geburtstag. Als hätte er es so geplant.« Maria Valacci lachte. »Wahrscheinlich
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