Die Toten der Villa Triste
ich. »Dann fahr du an meiner Stelle, zusammen mit deinem Sohn. Ich komme euch später nach. Ich werde es schon schaffen. Lodovico wird sich um euch kümmern.«
Das ließ Issa tatsächlich lächeln. Sie wippte auf den Fußballen, ohne meine Hände loszulassen.
»Wenn du nach Süden willst, musst du über die Berge«, sagte sie. »Und wer von uns beiden wird das wohl eher überleben?«
Ich sah sie an. Wir wussten beide, dass ich es nicht war.
»Ich kann dich und ein Baby unmöglich über die Berge bringen, Cati. Und auf dem Boot ist nicht genug Platz, nicht für uns drei, und es wird nicht auf uns warten. Außerdem«, ergänzte sie, »habe ich hier eine Aufgabe zu erfüllen. Wenn die erledigt ist, komme ich nach. Ehrenwort.«
Wieder sah ich sie an, sah in ihrem Gesicht die stille Trauer über Carlos Tod und dachte an das Versprechen, das ich mir selbst gegeben hatte. An meinen Schwur – dass ich alles für sie tun würde.
Isabella schärfte mir ein, auf sie zu hören. Sie erklärte mir, dass sie die ganze Nacht nachgedacht hätte und dass sie bereits geplant habe, nach Bologna zu reisen. Sie sagte, sie würde dort in den Kampf eintreten – dort würde sie gebraucht, außerdem war sie dort nicht weit von den Bergen entfernt. Sobald sie nicht mehr gebraucht wurde, würde sie verschwinden, der Via degli Dei nach Hause folgen, dort Mama aufspüren und dann mit ihr nach Neapel weiterfliehen. Sie konnte die Berge mit verbundenen Augen durchqueren. Sie wusste, wo und von wem sie Hilfe erwarten konnte. Sie sah mich gespannt an.
»Würdest du das auch schaffen?«, fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf.
»Und glaubst du nicht, dass ich das schaffen könnte?«
Schon als Kind hatte Isabella es immer verstanden, genau die Fragen zu stellen, die mir den Wind aus den Segeln nahmen. Und selbstverständlich hatte sie recht. Sie war eine Berühmtheit. Wenn jemand diesen Marsch überleben würde, dann sie.
»Du musst das Kind nehmen und mit ihm in den Süden fliehen«, sagte sie. »Das wird schwer genug werden. Bitte«, drängte sie. »Bitte, Cati. Ich flehe dich an, tu das für mich. Rette ihn. Bringe ihn von hier fort. Wenn du mich liebst.«
Ich sah ihr ins Gesicht. Ich spürte, wie ihre Hände meine umklammerten. »Wenn du mich liebst.« Was hätte ich darauf erwidern können?
Also fahren wir. In einer Stunde. Oder zweien. Ein Mann wird mit Papieren kommen, in denen steht, dass ich seine Frau bin und wir mit unserem neugeborenen Kind nach Genua fahren, wo wir bei Verwandten unterkommen wollen. Jedes einzelne Papier ist unterschrieben, besiegelt, gestempelt. Nur dafür war Isabella heute Morgen unterwegs. Bisweilen vergesse ich, wer und was sie ist. Dass es Menschen gibt, die ihr etwas schulden. Einen Gefallen. Ihr Leben.
Vor ein paar Minuten zog sie mich ins Schlafzimmer, als könnte uns der Kleine belauschen, und nahm mir noch einen letzten Eid ab: Falls ihr etwas zustoßen sollte, dürfte ich dem Kind nie verraten, dass es nicht mein Sohn ist.
»Ich will, dass du mir eines schwörst«, sagte sie. Diesmal hatte sie wirklich die Hand erhoben. »Wenn ich es nicht schaffe, wenn mir irgendwas zustößt, dann musst du ihn mitnehmen und bei dir behalten und ihn wie deinen Sohn erziehen und ihn nie wissen oder auch nur ahnen lassen, dass seine Mutter ihn weggegeben hat. Dass sie sich von ihm abgewandt hat. Und sei es noch so kurz. Ich möchte nicht, dass er mit diesem Wissen lebt. Das musst du mir versprechen.«
Ich sah ihr in die Augen. Ich wollte ihr schon sagen, dass das Unfug war – dass der Junge sie bestimmt verstehen würde, dass ich, falls ihr tatsächlich etwas zustoßen sollte, ihm bestimmt begreiflich machen könnte, wie sehr sie ihn liebte.
»Bitte«, sagte sie. »Tu es für mich, Cati. Schwöre es mir.«
Und so hob ich die Hand. Ich legte sie auf ihre.
»Blutsbande, Cati«, flüsterte Isabella.
Ich nickte.
»Blutsbande, Issa.«
Selbst jetzt weiß ich nicht, ob ich die Kraft aufbringen werde, sie allein zurückzulassen. Es ist ein Gefühl, als hätte man mir die Eingeweide aus dem Bauch gerissen. Der Schmerz wird nur erträglich, wenn ich das Kind ansehe – denn ich tue all das nur für ihn. Und für sie. Weil sie mich darum gebeten hat.
Trotzdem ertrage ich das Gefühl nicht, dass sie völlig allein zurückbleibt, verlassen und verraten wie damals, als sie vor jenem ausgehobenen Graben stand. Darum werde ich etwas unternehmen.
Ich werde mich ein letztes Mal gegen dich zur Wehr setzen, Isabella. Mit
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