Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
Vom Netzwerk:
noch am Leben wäre«, sagte sie ungeheuer ruhig, »und ich mit ihm zusammen sein könnte, würde ich sofort von hier verschwinden. Ich würde weggehen. Wenn ich müsste, würde ich auf allen vieren zu ihm kriechen. Ich würde dich, ohne zu zögern, verlassen.«
    Ich merkte, wie ich zu zittern begann. Mein Blick verschwamm.
    »Aber ich«, antwortete ich schwer atmend, »bin Gott sei Dank nicht du!«
    Ich stieß sie beiseite und stürmte ins Nebenzimmer. Dann knallte ich die Tür hinter mir zu. Sofort begann der Kleine zu weinen. Ich hörte, wie Issa zu ihm ging, hörte, wie sie ihm etwas vorsang. Ich blieb stehen und merkte, wie die Wände um mich herum zu schwanken und zu kippen begannen. Ich setzte mich aufs Bett und wiegte mich – hin und her, hin und her, im Rhythmus ihres Gesangs, der durch die dünne Holztür drang. Dann weinte ich. Ich weinte, bis mir die Kehle wehtat und meine Augen geschwollen waren und ich endlich einschlief.
    In der Küche stand, direkt neben dem Stubenwagen, ein alter Lehnsessel. Offenbar hatte Issa darin geschlafen, denn sie kam nicht zu mir ins Zimmer. Am nächsten Morgen hörte ich sie in aller Frühe herumgehen. Ich schlief wieder ein, in der Hoffnung, dass sie einfach gehen würde. Dass sie in die Berge verschwinden und den Kleinen und mich in Frieden lassen würde – um in ein paar Tagen als ein anderer Mensch zurückzukehren. Aber als ich schließlich die Tür aufzog, stellte ich fest, dass beide verschwunden waren. Mutterseelenallein stand ich in der Küche. Sie hat Wort gehalten, dachte ich, wenn auch nicht so, wie ich dachte. Sie hatte mich verlassen, damit mir nichts anderes übrig blieb, als sie ebenfalls zu verlassen.
    Ich setzte mich an den Tisch. Ich hatte keine Ahnung, was ich jetzt tun sollte. Ohne sie trieb ich steuerlos auf hoher See. Selbst wenn ich nach Genua hätte fahren wollen, hätte ich beim besten Willen nicht gewusst, wie ich das anstellen sollte. Ich konnte schlecht zum Bahnhof gehen und in einen Zug steigen. Der Tag war klarer als die vorangegangenen. Die Sonne strahlte durch das kleine Küchenfenster. Ich saß da, sah die Sonnenstrahlen über das Fensterbrett streichen und stellte mir vor, wie mein Leben wohl ohne sie aussehen würde, wie die Jahre in der Leere verhallen würden. Ich versuchte immer noch, mir das vorzustellen, als ich ihre Schritte auf der Treppe hörte.
    Ohne ein Wort zu sagen, trat sie ein, das Kind im Arm, und legte es in den Stubenwagen. Als sie sich umdrehte, hatte ihr Gesicht wieder diesen bestimmten Ausdruck – genau wie früher, wenn sie in die Berge ging oder wenn sie zu mir nach Florenz ins Krankenhaus kam, weil sie etwas von mir wollte. Sie war nicht mehr wütend, sondern ganz ruhig. Sie hatte einen Entschluss gefasst.
    »Du musst weg«, sagte sie. Sie sah mich an. »Du musst weg von hier, Cati. Und du musst ihn mitnehmen.« Bevor ich auch nur den Mund aufmachen konnte, ergänzte sie: »Es ist schon alles arrangiert. Sie holen euch heute Nachmittag ab und bringen euch beide nach Genua.«
    Ich starrte sie an. Dann schüttelte ich den Kopf.
    »Nein«, sagte ich. »Das kann ich nicht, Issa. Ich …«
    Ehe ich sie daran hindern konnte, war sie vor mir auf ein Knie gegangen und hatte meine Hände genommen.
    »Cati.« Sie sah mir eindringlich in die Augen. »Ich flehe dich an. Ich flehe dich um meines Sohnes willen an. Du kannst ihn vor alldem bewahren. Vor dem, was ihn hier erwartet. In Neapel ist er sicher.«
    Ich klappte den Mund auf. Ich wollte etwas sagen, doch dann brachte ich kein Wort über die Lippen. Denn sie hatte recht.
    »Nimm ihn mit«, sagte Issa. »Wenn du mich liebst, Cati, dann nimm ihn mit.« Ich hatte immer gewusst, dass sie keine Skrupel kannte. Dass sie vor nichts zurückschrecken würde, wenn sie etwas für richtig hielt. Sie presste meine Hände zusammen. »Ich komme nach. Ich komme zu euch, sobald ich kann.«
    »Nein«, sagte ich schnell. »Nein.« Ich hatte ein Schlupfloch entdeckt und nutzte es sofort. »Wir müssen alle zusammen fliehen, wir alle drei.«
    Issa schüttelte den Kopf.
    »Auf dem Boot ist nicht genug Platz. Und selbst wenn, gibt es praktisch keine Zugfahrkarten mehr. Es war schon schwierig genug, eine für dich und ihn zu beschaffen. Noch eine werde ich keinesfalls bekommen.«
    »Du könntest es versuchen. Du könntest …«
    Wieder schüttelte sie den Kopf. »Der Kapitän wird nicht warten. Er legt morgen Abend ab. Er muss. Er muss aufs Meer, solange Neumond ist.«
    »Dann fahr du«, sagte

Weitere Kostenlose Bücher