Die Toten der Villa Triste
Arglist. Und dieses Mal werde ich gewinnen. Hast du gehört? Wenn dir das nicht gefällt, kannst du niemandem außer dir selbst die Schuld geben. Du hast mich gelehrt, ganz langsam zu gehen und mich nicht umzudrehen – du hast mich gelehrt, mutig zu sein. Und du hast mich gelehrt, trotzig zu sein. Wenn du also wütend auf mich bist, kannst du niemandem als dir selbst die Schuld daran geben. Du hast mir gezeigt, wie es geht.
Inzwischen bin ich am Ende dieses Buches angekommen. Anders, als ich es mir vorgestellt hatte, wird es das Kriegsende nicht mehr erleben. Ich habe kein Foto von mir, das ich dir hinterlassen könnte, das du an deinem Herzen tragen könntest, dicht neben Carlos Bild. Stattdessen wirst du dich mit diesen »Wortbildern« begnügen müssen. Gleich werde ich aufstehen und dieses Buch im Schlafzimmer verstecken, aber nur notdürftig. An einem Fleck, wo du es – morgen oder spätestens übermorgen, so, wie ich dich kenne – finden wirst. Und dann wirst du es für mich aufbewahren, bis wir uns wiedersehen, und du wirst wissen, dass dich meine Worte begleiten werden und dass du nicht allein bist, auch wenn wir nicht mehr in deiner Nähe sind.
Ich wünschte, ich hätte etwas anderes, etwas Besseres, aber mehr kann ich dir nicht geben – als dieses Stück von mir. Und dieses letzte Bild.
Wir sitzen hier, zu dritt inzwischen, an einem wackligen Tisch in einer kleinen Wohnung, die früher fremden Menschen gehörte und die wir zu unserem Heim gemacht haben. Die Sonne scheint durch das Fenster, und du singst dem Kleinen etwas vor. Du siehst ihm in die Augen und wiegst ihn in den Armen. Du hältst deinen Sohn in den Armen, während wir darauf warten, dass jemand an die Tür klopft.
Fünfter Teil
28. Kapitel
Die Stadt war wie versilbert. Irgendwann um Mitternacht war das lang vorhergesagte Gewitter über die Stadt gezogen und hatte alle Farben ausgewaschen. Es hatte das Rot aus den Dächern gesogen und die goldene, cremefarbene Wärme aus den verputzten Palazzi gelaugt. Die Graupeln gefroren in Rinnsalen in den Spalten zwischen den Pflastersteinen, während der Samstagmorgen zwischen Dämmerung und Sonnenaufgang zu verharren schien.
Trotz der sonntäglichen Mittagessen, die Saffy organisierte, hatte Pallioti die Wochenenden zu hassen begonnen. Diese Entwicklung hatte erst in jüngster Zeit eingesetzt, und abgesehen davon, dass er fünfzig geworden war, konnte er keinen besonderen Anlass oder Grund dafür erkennen. Früher hatte er ebenso eifersüchtig über seine Zeit gewacht wie jeder andere und war zufrieden damit gewesen, sie mit sich allein zu verbringen. Inzwischen wurde er rastlos, wenn er nicht im Büro war. In letzter Zeit war er regelrecht erleichtert, wenn er einen dringenden Fall auf dem Schreibtisch liegen hatte, einen »Aufreger«, ein Drama, das hundert Prozent seiner Aufmerksamkeit forderte. Die letzten beiden Wochenenden waren in dieser Hinsicht ideal gewesen. Aber der Betrugsfall war praktisch gelöst. Genauso wie offenbar der Mord an den beiden alten Männern. Enzo hatte noch kein Geständnis in der Tasche, aber er war immer noch in Brindisi. Und wenn überhaupt, optimistischer denn je. Kurz gesagt, alles lief glatt. Womit Pallioti vor Langeweile zappelnd in einer Sackgasse steckte.
Er wusste nicht genau, wie lange er wirklich spazieren gegangen war. Schließlich fand er sich abseits der Via dei Renai wieder. Möglicherweise hatte es ihn von Anfang an hierhergezogen. Er wusste es beim besten Willen nicht. Seit in dem kleinen roten Buch nur noch ein paar abgegriffene Seiten mit Eselsohren geblieben waren, die trotzig leer geblieben waren, fühlte er sich wie bestohlen. Um etwas betrogen und ein bisschen verärgert. Als sei er in etwas hineingezogen und dann allein gelassen worden. Als hätte er an eine Geschichte geglaubt, nur um feststellen zu müssen, dass sie kein Ende hatte.
Die fünf Rosen standen immer noch in der kleinen Glasröhre. Inzwischen waren die Blütenblätter von Graupelkörnern zerfetzt worden, und in den weißen, weichen Falten lagerten winzige Eiskristalle. Er streifte den Handschuh ab, hob die Hand und strich mit den Fingern über die eingeprägte Inschrift auf der Gedenktafel. Seine Hand kam zur Ruhe und begann, auf den eisigen Lettern zu frieren. Er streifte die Handschuhe wieder über, aber das nutzte nichts. Genauso wenig wie sein energisches Händeklatschen. Schließlich trieb ihn die Kälte in eine winzige Bar, in der sich Straßenkehrer und Polizisten den
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