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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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ersten Kaffee des Tages gönnten.
    Den Cognac zu seinem Kaffee hatte er weder bestellt noch bezahlt, aber das Mädchen hinter der Theke schenkte ihm trotzdem ein Glas ein, nachdem es sein Gesicht gesehen hatte.
    Er nahm Caterinas Buch aus der Tasche und legte es auf den Tisch am Fenster, an den er sich mit seinem Kaffee gesetzt hatte. Er gestand es sich nicht gern ein, aber Signor Cavicallis Eröffnung, dass er es mit einem ganzen Paket von herrenlosen Habseligkeiten vom Florentiner Roten Kreuz erworben hatte – dass es unter lauter Treibgut und Krempel gelandet war, ein weiteres unbeachtetes Fragment aus der Wühlkiste der Geschichte –, setzte ihm immer noch zu. Die ganze Nacht über hatte er schlecht geschlafen, immer wieder war er aus Träumen hochgeschreckt, in denen zerlumpte Frauen an schweigenden Menschen vorbeimarschierten. In denen Züge anruckten und beschleunigten und dabei eine Konfettispur aus Namen, Adressen und Nachrichten hinter sich herzogen, die wie Schneeflocken auf die Gleise trudelten. Ein Mädchen hatte mit einem Baby im Arm getanzt. Männer hatten auf einer Lichtung gestanden, Schaufeln in den Händen.
    Irritiert sagte er sich, dass seither viele Jahre vergangen waren, dass das niemanden mehr interessierte. Er nahm einen Schluck aus seiner Tasse. Der Kaffee traf auf den Cognac und brannte sich gurgelnd durch seine Speiseröhre. Zwei Arbeiter lachten rau. Ein Verkehrspolizist schäkerte mit dem Mädchen hinter der Theke. Nachdem Pallioti die Nacht unter lauter Gespenstern verbracht hatte, war es eine Wohltat, in die Welt der Lebenden zurückzukehren. Er stand auf, ging an die Bar und wartete gerade auf seinen zweiten Espresso, wobei er energisch dem Drang widerstand, auch einen zweiten Cognac zu bestellen oder mit den Fingern auf die Theke zu trommeln, als das Handy in seiner Tasche zu vibrieren begann. Er hatte eine SMS bekommen, von Eleanor Sachs. Wollte Sie nicht aufwecken. Rufen Sie an, wenn Sie wach sind. Habe etwas gefunden.

    »Eleanor?«
    »Ach«, sagte sie. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt.«
    Der Tisch kippelte, als Pallioti nach der Zitronenschale auf der Untertasse griff und sie in zwei Hälften biss.
    »Ich bin schon seit Stunden wach«, antwortete er und fragte sich gleichzeitig, ob das wirklich stimmte. »Also, jedenfalls seit ein paar Stunden.«
    »Willkommen im Klub. Früher ging ich joggen. Jeden Morgen um fünf Uhr. Bevor mein Knie nicht mehr wollte. Keine Marathons mehr, aber ich wache immer noch auf.« Einen Moment lang glaubte er, sie würde ihn gleich fragen, was seine Entschuldigung dafür war, so früh aufzustehen, aber das tat sie nicht. Stattdessen sagte sie: »Wie dem auch sei. Ich wollte Ihnen erzählen, was ich herausgefunden habe – über diese Frauen.«
    Er zerkaute die Zitronenschale und machte sich an das vertrackte Manöver, einhändig das Zuckerpäckchen aufzureißen.
    »Dann los.«
    »Also …«
    Pallioti hörte sie in einer Küche hantieren, hörte Porzellan klirren. Er stellte sich vor, wie sie das Telefon zwischen Kopf und Schulter klemmte. Jeden Augenblick würde es auf den Boden fallen und kaputtgehen.
    »Und zwar über beide«, fuhr sie fort. Das Scheppern war verstummt, und sie klang wesentlich deutlicher. »Cammaccio und Bevanelli.«
    Ehe Pallioti einwenden konnte, dass das nicht möglich war, dass sie sich geirrt hatte, weil die beiden Frauen ein und dieselbe Person waren, sprach sie schon weiter.
    »Eine Caterina Cammaccio wurde in einem Feldlazarett in Bologna geführt. Im April 1945. Als Nächstes wird sie, ebenfalls 1945, in den Akten des Roten Kreuzes in Florenz als verstorben aufgeführt.«
    Pallioti blieb stumm. Demnach hatte sich Caterina doch zum Bleiben entschlossen. Oder es war etwas schiefgelaufen. Mit den Zügen. Vielleicht war sie doch nicht nach Genua gelangt. Oder dem Kind war etwas zugestoßen, und sie war umgekehrt. Vielleicht hatte sie es einfach nicht übers Herz gebracht, Isabella zurückzulassen.
    Vor dem schmierigen Fenster der Bar sah er einen Strauß von Papp-Eisbechern im Rinnstein liegen und die blauen und rosa Tupfen darauf durch den kalten Morgen leuchten.
    »Es gibt auch noch eine L. Bevanelli«, sagte Eleanor Sachs gerade. »So nannten sie sich doch, oder? Bevanelli?«
    Sie buchstabierte den Namen.
    »Genau.«
    Sie konnte Pallioti nicht sehen, doch er nickte und ließ das Zuckerpäckchen fallen.
    »Also, laut der CLN wurde diese L. Bevanelli letztmals am 17. April nahe einem Ort namens Anzola gesehen. Ich

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