Die Toten der Villa Triste
verdächtigt?«
Er beugte sich vor und fixierte sie mit jenem Blick, der im Verhörzimmer so oft Wunder gewirkt hatte. »War Ihnen schon damals etwas merkwürdig vorgekommen? An ihrer Geschichte? Von der Flucht. Witterten Sie damals etwas, war irgendetwas nicht ganz stimmig? Etwas, das Sie nie vergessen und gleichzeitig nie beweisen konnten? Bis Sie die drei abends im Fernsehen sahen?«
Er wusste nicht, ob er wirklich mit einer Antwort rechnete. Wahrscheinlich schon, und zwar in einem unglaublich eingebildeten Teil seines Egos. Dass das Alter oder die Einsamkeit oder der Wunsch zu beichten – möglicherweise auch nur das Bedürfnis, diese Geschichte mit jemandem zu teilen oder sogar damit anzugeben –, sie zum Reden bringen würde.
Aber noch während sich dieser Gedanke in seinem Kopf bildete, begriff er, dass er es besser hätte wissen müssen. Bei einem geringeren Gegner hätte das vielleicht passieren können. Aber nicht bei dieser Frau.
Pallioti sah sich im Raum um. Blickte auf die weichen Lichtflecken und die tiefen Schatten. Die dichten Teppiche, die polierten Möbel. Er fragte sich, ob er, wenn er die Ohren spitzte, auch ein schwaches Echo der hier geführten Gespräche hören würde, das Getrappel der Kinderfüße, das unzufriedene Geflüster, die alten Witze und ständig wiederkehrenden Sprüche, die eine Familie ausmachen. Es gab hier keinen Fernseher. Wahrscheinlich stand er oben, in einem Arbeitszimmer oder einer Bibliothek, wo er die perfekte Symmetrie des Hauses nicht störte. Sie hatte ferngesehen, dachte er, vielleicht an der Seite ihres kranken Mannes, vielleicht auch allein, wahrscheinlich immer kurz davor, den Apparat auszuschalten – möglicherweise sah sie auch nur mit halbem Auge zu. Bis die Frau in dem blauen Kleid die nächste Frage gequakt und das Mikrofon unter Massimos Nase gehalten hatte.
Die Stille im Raum vertiefte und verdichtete sich, bis Pallioti zu hören meinte, wie draußen der Schnee fiel, wie er gegen die Mauern trieb und sich zwischen die Latten der Fensterläden schob. Im Kamin knisterte und knackte eine Flamme. Er beugte sich vor und fasste nach dem Papier auf dem Tisch. Die schwarzen Buchstaben in Guillermos korrekter, gleichmäßiger Handschrift flackerten im Feuerschein, als würden sie jeden Augenblick zum Leben erwachen und vom Papier springen.
»Vielleicht habe ich Ihren Sohn gefunden«, sagte er. »Oder Ihren Neffen. Aber wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich«, gestand er mit einem traurigen Lächeln, »wollte ich nur jemandem helfen.«
Pallioti stand auf. Er fühlte sich alt, so als hätte ihn die Zeit besiegt, und griff nach seinem Mantel.
»Er lebte in Cleveland, Ohio. In den Vereinigten Staaten. Und dann in Pittsburgh, Pennsylvania. Er starb vor einem Jahr an Lungenkrebs. Seine Eltern waren Italiener, Victor und Catherine. Ihr Nachname lautete Faber. Eine Abkürzung von Fabbionocci. Ich weiß nicht, ob Ihnen das etwas bedeutet. Falls ja, er hat eine Tochter. Sie heißt Eleanor Sachs. Sie lehrte an der Universität von Exeter in England. Sie wird nach Amerika zurückkehren.« Pallioti nickte zu dem Papier auf dem Tisch hin. »Es steht alles darauf.«
Er knöpfte seinen Mantel zu. Dann sah er in Signora Grandolos Gesicht und begriff, dass dies ihre letzte Begegnung bleiben würde. Er merkte, dass er sie gern noch einmal berührt hätte, dass er gern noch einmal die feste Wärme ihrer Hand gespürt und ein letztes Mal die scharfe, exotische Note ihres Parfüms gerochen hätte.
Er fasste in seine Tasche. Seine Finger schlossen sich um den abgegriffenen Umschlag des kleinen roten Buchs. Es aufzugeben war, wie eine Geliebte zu verlassen. Er bückte sich und platzierte es behutsam auf dem Tisch.
»Ich glaube«, sagte Pallioti, »das gehört Ihnen.«
Sechster Teil
38. Kapitel
Ein paar Tage darauf erfuhr Pallioti, dass Marta Buonifaccio in ihre Wohnung im Erdgeschoss des Palazzo zurückgekehrt war. Sein Instinkt riet ihm, die ganze Sache zu vergessen, auch weil er anderes zu tun hatte. Er hatte schon angefangen zu überprüfen, wo sich Signora Grandolo aufgehalten hatte. Nicht, dass es noch zählte. Er wusste, er würde herausfinden, dass sie in Apulien gewesen war, wo sie mit ihrer Familie in dem Hotel gewohnt hatte, von dem Maria so begeistert erzählt hatte. Möglicherweise würde er auch herausfinden, dass sie einen Grund gehabt hatte, ab und zu in die Gegend südlich von Siena zu fahren, und dass niemand sie an dem Nachmittag gesehen hatte, an dem
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