Die Toten der Villa Triste
hatte mit quietschenden Bremsen anhalten müssen. Sobald er zum Stehen gekommen war, waren die Waggons gestürmt worden. Zweihundert alliierte Kriegsgefangene seien befreit worden.
Während sie das erzählte, verschwand der Hof vor meinen Augen. Ich sah nicht mehr die Rosenbüsche, deren Wurzeln fürsorglich in Säcke gepackt worden waren, und auch nicht mehr den alten Gärtner mit dem krummen Rücken und der Hacke in der Hand. Ich sah nur noch Issas Gesicht. Und Massimo mit seiner Schrotflinte. Und dann hörte ich Enricos Stimme und musste an seinen leeren Schrank denken.
Am selben Spätnachmittag wurde im Radio durchgegeben, dass die Verordnungen verschärft worden seien. Ab sofort würden alle Versuche, dem Feind zu helfen, sowie sämtliche Sabotageakte, für die man bis dahin vors Kriegsgericht und ins Gefängnis gekommen war, mit einer standrechtlichen Erschießung geahndet.
An jenem Abend verließ ich das Krankenhaus früher als sonst. Schon ein paar Minuten nach sieben war ich zu Hause. Ich lehnte das Fahrrad gegen die Hecke neben dem Tor und ging so leise wie möglich über das kurz geschnittene Gras zum Haus, damit der Kies nicht unter meinen Füßen knirschte. Die Fenster im Obergeschoss starrten glasig auf den Garten. Unten waren die Fensterläden zugeklappt. Lichtstreifen rutschten durch die Lamellenschlitze und blinzelten in die Dunkelheit.
Bevor ich die Haustür öffnete, blieb ich für einen Moment auf der Stufe stehen. Dann kehrte ich eilig zum Tor zurück und sah die Straße hinauf und hinab. Nichts hatte sich verändert. Alle anderen Häuser sahen aus wie unseres – still und mit einem warmen Leuchten von innen. Ein Mann kam auf dem Bürgersteig den Hügel herauf. Ich hörte seine Schritte, noch bevor ich ihn sah, und wich instinktiv zurück. Ich beobachtete, wie er weiter unten in eine Einfahrt einbog. Das Heim einer neuen Familie, die ich nicht kannte und die erst seit ein paar Jahren in unserer Straße wohnte. Die Tür ging auf. Licht strömte heraus und wurde gleich wieder abgeschnitten. Danach war ich wieder allein. Ich drehte mich um, ging eilig auf dem Rasen neben der Auffahrt zum Haus zurück und huschte dann leise wie eine Katze durch die Haustür.
Vom Flur aus hörte ich leises Gemurmel, das Auf und Ab mehrerer Stimmen. Ich bemühte mich, einzelne Worte auszumachen, aber ich war zu weit weg. Die Küchentür war geschlossen, die Stimmen blieben gedämpft. Ich spielte mit dem Gedanken, die Schuhe auszuziehen. Doch als ich mich schon gebückt hatte, um die Schnürsenkel zu öffnen, begriff ich, dass ich zu viel Angst hatte. Und zu wütend war. In meinem Kopf hörte ich Enricos Stimme. Du musst dich um alles kümmern. Um Mama. Und Papa. Und um das Haus. Mit klopfendem Herzen stand ich auf, holte tief Luft, marschierte durchs Esszimmer und stieß die Küchentür auf.
Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber jedenfalls nicht das, was ich sah.
Isabella stand an der Spüle. Meine Mutter stellte gerade einen riesigen Topf auf den Herd. Wie auf Kommando drehten sich beide mit offenem Mund zu mir um.
Zu behaupten, dass diese häusliche Szene ein ungewöhnlicher Anblick war, wäre großzügig untertrieben gewesen. Mit ihren goldenen Haaren, den schicken Kleidern und den geschminkten Lippen sahen meine Mutter und meine Schwester aus wie miserable Schauspielerinnen, die zwei Hausfrauen zu imitieren versuchten. Außerdem wusste ich mit Sicherheit, dass sich keine von beiden freiwillig an den Herd gestellt hätte.
Mama erholte sich zuerst. Sie lächelte, wischte die Hände an der Schürze ab, die sie sich umgebunden hatte, und begrüßte mich dann in einer schlechten Imitation von Emmelina: »Cati, wie schön. Du bist heute rechtzeitig zum Essen da!«
Ich fing Issas Blick auf und meinte sie lächeln zu sehen. Ehe ich sicher sein konnte, hatte sie sich wieder über die Spüle gebeugt und machte mit dem weiter, was sie gerade getan hatte. Das Radio plapperte auf dem Tisch. Mama schaltete es aus.
»Dieser Lärm«, verkündete sie übertrieben fröhlich. »Dabei kann man sich selbst kaum denken hören. Das Essen ist gleich fertig, lauf nur hoch und zieh dich um.«
Sie griff nach einer immens großen Schüssel, die sie aus dem Schrank geholt hatte und die jetzt auf der Küchentheke bereitstand.
»Ich decke den Tisch«, murmelte Issa. Sie nahm einen Stapel Teller und huschte an mir vorbei ins Esszimmer.
»Wenn ich gewusst hätte, dass du heimkommst«, ergänzte Mama, »hätte ich gewartet.
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