Die Toten der Villa Triste
dann die zu Isabellas Zimmer dahinter, danach die zum Schlafzimmer meiner Eltern auf der anderen Seite des Flurs und zuletzt die zu Enricos Zimmer.
Sie saß auf Enricos Bett, hielt einen seiner Pullover im Schoß und streichelte ihn mit einer Regelmäßigkeit, die an ein Metronom erinnerte. Der Ring, den meine Mutter immer trug – der Ring, der früher meiner Großmutter gehört hatte, ein Aquamarin umgeben von kleinen Diamanten –, blinkte im Licht, das zum Fenster hereinfiel.
Ich stand keine drei Schritte von ihr entfernt, aber sie sah mich nicht an. Stattdessen starrte sie mit ihren dunkelblauen Augen auf das Fensterbrett, als sähe sie dort etwas, und zwar etwas anderes als den dicken Ast und das Dach des Hauses eine Straße weiter unten. Ein Bild, vielleicht, von den Kindern, die wir früher gewesen waren. Von der Vergangenheit, in der wir gelebt hatten und die sie mit den Fingerspitzen nachfuhr, wenn sie von einem Möbelstück zum nächsten wanderte.
Gerade als ich mich umdrehte und aus dem Zimmer schleichen wollte, begann sie zu sprechen.
»Cati?«
Ich hatte gar nicht erst Licht gemacht. Es war dunkel im Zimmer. Ich sah über die Schulter zurück. Meine Mutter war kaum mehr als ein Gespenst. Ihr Kleid verschmolz mit der Dunkelheit. Ihre Beine, Arme und Hände wirkten so bleich, dass sie fast zu schimmern schienen. Ihr so schönes Haar war vollkommen farblos.
»Ich vermisse ihn.«
»Ja«, sagte ich. »Ich weiß.«
»Hast du Angst?«
Die Frage schwebte zwischen uns im Raum.
Eine Hand auf dem Türpfosten, nickte ich.
»Jeden Tag?«, fragte sie. »Immerzu?«
Ich nickte wieder.
Meine Mutter senkte den Blick auf den Pullover in ihrem Schoß. Ihre Hand verharrte darüber, als würde sie durch das Halbdunkel treiben.
»Ich hätte nicht gedacht, dass es so sein würde«, sagte sie.
In den folgenden Wochen bekam ich meine Familie kaum zu Gesicht. Meine neuen Pflichten erforderten, dass ich immer öfter bis tief in die Nacht im Krankenhaus blieb und schon in aller Frühe zur Arbeit kam. Gelegentlich blieb ich sogar über Nacht und schlief dann in einem Sessel im Schwesternzimmer, soweit ich überhaupt zum Schlafen kam. Der Herbst setzte sich fest. Die Nächte machten sich breit und schienen, wenn ich einmal zu Hause war, von Gespenstern begleitet. Sie versammelten sich in den Zimmern, in denen ich aufgewachsen war. Drängten sich unter der alten Zeder und lauerten mir beim Schuppen auf. Aber vor allem starrten sie mich aus den Augen meiner Mutter an, als hätten sie sich in ihr eingenistet.
Sie ließ mir Teller mit Essen stehen. Käsestückchen. Einen Apfel mit einem silbernen Messer daneben. Eine Scheibe Schinken während der immer häufigeren Abende, an denen ich nicht rechtzeitig heimkam, um Essen zu kochen. Wenn ich zu Hause war, saß sie oft am Küchentisch und sah mir lächelnd zu, mit sehnsüchtiger Miene und leicht verschwommenen Zügen, so als würde sie mich aus einem Spiegel heraus ansehen. Es war ein befremdliches und unerwartetes Gefühl, und es bereitete mir ein dermaßen schlechtes Gewissen, dass ich mir vorzustellen begann, wir hätten plötzlich die Rollen getauscht. Dass ich jetzt diejenige sei, die nie aufmerksam genug gewesen war, die nie genug geliebt hatte, und dass sie durch meine Nachlässigkeit irgendwie den Phantomen zum Opfer gefallen war – die sie dadurch an einen fremden, kalten Ort hinter den Spiegeln hatten locken können.
Das Gefühl war zutiefst verstörend. Trotzdem führte es uns auf merkwürdige Weise zusammen. Wir sprachen nie wieder darüber, aber ich war inzwischen recht sicher, dass sie Enrico genauso in ihrem Herzen bewahrte wie ich Lodo – wobei sie allerdings den Luxus genoss zu wissen, dass er noch am Leben war. Mehr als einmal hatte ich, wenn wir allein waren, die verrückte Vorstellung, dass wir nicht zu zweit beim Frühstück saßen, sondern zu viert. Dass Mama und ich unser Brot und unsere Gedanken nicht nur miteinander, sondern auch mit Enrico und Lodo teilten. Den Engeln, die über unserer rechten Schulter schwebten.
Das Kinderkrankenhaus wurde in einer umgebauten Villa wiedereröffnet. Die Vorbereitungen waren schon bald abgeschlossen, vor allem dank der deutschen Kommandantur, die eines der requirierten Häuser freigab, um Platz für die Kinder zu schaffen. Wie man hörte, waren die Deutschen ausgesprochen hilfsbereit und hatten sich sogar bereit erklärt, beim Einrichten der provisorischen Stationen mitzuhelfen, eine großzügige Geste, die alle
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