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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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Beteiligten verblüffte und verwirrte.
    Bis Mitte Oktober hatte die italienische »Exilregierung« – mit anderen Worten der König und Badoglio, die sich hinter die alliierten Linien im Süden verkrochen hatten – endlich Zeit gefunden, das zu verkünden, was ohnehin jeder wusste: dass sich Italien mit Deutschland im Krieg befinde. Wir hatten die Deutschen auch zuvor nicht gemocht und uns vor ihren marschierenden Truppen, den Flaggen und Panzern gefürchtet. Jetzt waren sie offiziell unsere Feinde. Wir hatten Todesangst davor, wozu sie fähig sein könnten. Aber gelegentlich zeigten sie sich auch äußerst zivilisiert. Sogar ausgesprochen freundlich. Bisweilen war es nicht so einfach, zu entscheiden, was man tatsächlich für sie empfand.
    Etwa um die gleiche Zeit erreichten uns die ersten Gerüchte aus Rom – Geschichten über Razzien im jüdischen Getto, über verplombte Züge, die nach Osten fuhren. Wir glaubten sie und glaubten sie nicht. Wir redeten uns ein, dass die meisten deutschen Soldaten diesen Krieg und Adolf Hitler genauso satthatten wie wir und im Grunde anständige Männer waren, die ihrem Land zu dienen versuchten.
    Bei unseren Landsleuten empfanden wir hingegen keinen derartigen Zwiespalt. Enrico hatte mit seiner Prophezeiung recht behalten. Die Faschisten waren nicht nur zurückgekommen – sie hatten aufgeblasen und triumphierend Wiedereinzug gehalten und waren in ihrem Rachedurst noch verhasster und hassenswerter als je zuvor. Auf jeden Fall waren sie gefährlicher.
    Es stellte sich heraus, dass die deutsche Kommandantur die Polizeigewalt über Florenz praktisch den Truppen der Republik Salò überlassen hatte – den Republichini, den kleinen Republikanern, wie wir die Milizen nannten –, und die wurden in unserer Stadt von einem gewissen Mario Carita befehligt. Anfangs wusste man kaum etwas über ihn. Aber als der Sommer zu Ende ging und sich der Herbst über die Stadt legte, zeigten sich seine prügelnden Schwarzhemden, bekannt als die Banda Carita, immer öfter auf den Straßen. Gerüchte umschwirrten sie, wie Fliegen eine Leiche umschwirren. Es gab ein Haus an der Via Ugo Foscolo, aus dem nachts angeblich immer wieder Schreie zu hören waren. Und ein weiteres an der Via Bolognese, das die Menschen irgendwann Villa Triste nannten.
    Ende des Monats schlug das Wetter um. Gleich nach Sonnenuntergang wurde es kalt. Das weiche Honiglicht des Spätsommers, das Licht der Ernte und der Abendspaziergänge, verblasste und wurde von einer Reihe scharf umrissener, kristallklarer Tage abgelöst. Sie waren so klar, dass ich eines Morgens, als ich besonders früh aufgestanden war, begriff, dass ich mit meinem dünnen Mantel über der Uniform beim Fahrradfahren frieren würde. Während ich meine Schuhe schnürte, kam mir der Gedanke, dass ich mir einen Mantel von Issa ausleihen oder Mama fragen könnte, ob sie einen alten übrig hatte. Aber weil im Haus noch alles still war, schlich ich, statt sie zu wecken, auf Zehenspitzen in Enricos Zimmer gleich gegenüber meinem, um eine seiner alten Jacken aus dem Schrank zu nehmen. Doch als ich die Schranktür öffnete, war alles leer. Kein einziges Kleidungsstück war zurückgeblieben. Sogar das Gestell für seine Schuhe und Stiefel war abgeräumt. Ein paar Sekunden blieb ich verdattert stehen und versuchte, das inzwischen vertraute Gefühl zu verdrängen, dass die Zeit nicht mehr ihren geordneten Gang nahm, sondern sich irgendwie verheddert und mich in eine Zukunft geschleudert hatte, in der wir nicht mehr in diesem Haus wohnten, in der wir gar nicht mehr existierten.
    Ich sagte mir, dass ich mir solche Tagträumereien womöglich noch im Dunkeln erlauben konnte – ich hatte schon immer Angst im Dunkeln gehabt –, dass sie aber am frühen Morgen völlig idiotisch waren, und drehte mich zu seiner Kommode um, um viel erleichterter als angebracht festzustellen, dass die Schachtel mit den Manschettenknöpfen immer noch in der obersten Schublade lag, genau neben den Bürsten mit dem silbernen Griff, die meine Eltern ihm zum einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt hatten.
    Am Abend danach kam ich so spät nach Hause, dass nicht einmal ein einsamer Lichtstrahl durch die Lamellen der Fensterläden fiel. Zum ersten Mal, seit ich denken konnte, war das Haus vollkommen dunkel.
    Ich ließ mein Fahrrad im Schuppen stehen, schlich so leise wie möglich über den Weg, schob den Schlüssel behutsam ins Schloss und erstarrte tatsächlich in der Bewegung wie ein Dieb, als das

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