Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
Vom Netzwerk:
Bushaltestelle, wo schon zwei Teenager mit Bluejeans und eingezogenen Köpfen warteten. Mit ihren kurz geschorenen Köpfen und den Metallknöpfen in der Haut sahen sie für Marta ganz und gar nicht aus wie Musterexemplare einer aufstrebenden Jugend, nicht einmal wie zu groß gewachsene Kinder, die gern gefährlich aussehen wollten, sondern wie Sträflinge, Ausgestoßene, die mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern vorbeischlurften und sich in viel zu dünne, viel zu große Kleider hüllten. Sie machten ihr keine Angst, im Gegenteil, manchen von ihnen hätte sie am liebsten einen Mantel geschenkt. Dann rief sie sich jedes Mal in Erinnerung, dass die Eltern wahrscheinlich Banker, Professoren oder Anwälte waren, die in einem Jahr mehr einnahmen, als sie in ihrem ganzen Leben erarbeitet hatte.
    Eine alte Frau stand im Hauseingang gegenüber, ganz in Schwarz gekleidet, den Mantelkragen gegen den Wind hochgeschlagen. In einem Handschuh hielt sie einen Schirm, der in diesem Wetter völlig nutzlos war. In der anderen hing die unverzichtbare schwarze Tasche. Sie war vor zwanzig Jahren für zu viel Geld erstanden worden und enthielt mit Sicherheit den Hausschlüssel, ein Päckchen Taschentücher, einen halb aufgebrauchten, süßlich duftenden Lippenstift in dezentem Rosa und ein viel zu großes Portemonnaie, dessen Plastikfächer mit verblichenen Fotos erwachsener und gleichgültiger Kinder gefüllt waren. Kurz trafen sich ihre Blicke. Die Frau lächelte und sah zum Himmel auf. Novemberregen, konnte Marta sie beinahe sagen hören. Kommt er nicht jedes Mal wie ein Schock? Der Anfang eines weiteren Winters.
    Der Bus fauchte zwischen den Gebäuden heran. Die Frau stöckelte zur Haltestelle, und die riesige schwarze Tasche schwang dabei wie ein überdimensionales Pendel in ihrer Armbeuge. Ob ich inzwischen auch so aussehe?, überlegte Marta. Alt und unauffällig, ein weiteres abgenutztes Gesicht in dieser abgenutzten Stadt, das niemandem auffällt und das niemand vermissen wird. Wie, fragte sie sich, kommt es eigentlich dazu? In welchem Jahr genau beginnen wir zu verschwinden, mit unserer Umgebung zu verschmelzen, als würde sie uns langsam verschlucken und ins Haus zurückzerren?
    Die Teenager verzogen sich in den Bus. Der Mann mit dem Aktenkoffer reichte der älteren Frau den Arm und senkte den Kopf gegen den prasselnden Regen, während er ihr über den Rinnstein hinweghalf. Dann schlossen sich zischend die Türen und verschluckten die Fahrgäste, und die Straße blieb leer zurück. Marta blieb noch kurz stehen und schaute ins Nichts, dann verschwand sie wieder im Haus.
    Es war Mittagszeit. Das süßliche Aroma von Pilzen und Olivenöl hing in der Luft und mischte sich unangenehm mit dem scharfen Geruch der Möbelpolitur. Marta konnte sich nicht erinnern, wann genau sie es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Treppe und die Simse der großen, schweren Fenster zu polieren. Wahrscheinlich damals, als sie zu verschwinden begonnen hatte. Vor zwanzig Jahren, mit sechzig? Oder vor fünfundzwanzig Jahren, mit fünfundfünfzig? Jedenfalls damals, als ihre Hüften dicker geworden waren und die Männer aufgehört hatten, sie anzusehen. Damals hatte sie sich dem Gebäude zugewandt, und das hatte sie bisher noch nie enttäuscht. Die hohen Fenster mit den rautenförmigen Bleiglasscheiben blickten auf die schmale Gasse. Dahinter konnte man die Eisenringe in der Mauer des Palazzo nebenan sehen, in denen früher Fackeln gesteckt hatten.
    Marta hatte irgendwo gelesen, dass man im Mittelalter, als die Gasse noch benutzt wurde, die Fackeln dringend gebraucht hatte – sogar bei Tag. Der Weg war so schmal und die Palazzi auf beiden Seiten waren so hoch, dass man selbst bei hellem Tageslicht ohne den zuckenden Flammenschein wie in einem Tunnel ging. Damals waren die Fenster reine Angeberei gewesen. In jenen Tagen war Glas eine Prestigefrage. Eine Öffnung in einer ansonsten geschlossenen Mauer zeigte, dass man Feuerholz vergeuden konnte, um das Haus zu beheizen.
    Auf dem Boden des Hausgangs hatte jemand einen Stapel von Speisekarten eines Chinarestaurants und von Wurfzetteln für das örtliche Taxiunternehmen liegen gelassen. Kopfschüttelnd hob Marta sie auf. Schwein Mushu. Hähnchen Kung Pau. Sie wusste, was das bedeutete. Katzen waren in Florenz gesetzlich geschützt, aber niemand hatte sie je gezählt.
    Marta wollte die Zettel schon in den Papierkorb werfen, den sie vor Kurzem neben dem langen Tisch im Hausgang aufgestellt hatte, als ihr ein

Weitere Kostenlose Bücher