Die Toten der Villa Triste
Instinkt eines überarbeiteten Schäferhunds zu überwachen versuchte. Zweifellos wollte er Pallioti bitten, bei dem Essen etwas zu sagen – oder eher nicht zu sagen –, was augenblicklich aus seinem wild arbeitenden Hirn musste und unter keinen Umständen die dreißig Minuten warten konnte, bis sie im Nebenzimmer des Helvetia Bristol aufeinandertrafen.
»Pronto« , meldete sich Pallioti.
In der Leitung blieb es still. Das war nichts Neues. Der Bürgermeister war dafür berüchtigt, dass er irgendwo anrief und seine Gesprächspartner dann eine halbe Stunde in der leeren Leitung warten ließ, während er noch acht bis zehn andere Punkte und Telefonate erledigte. Pallioti sah wieder aus dem Fenster. Die drei Flaggen vor dem Gebäude, der Kreis der goldenen Sterne auf blauem Grund, die grün-weiß-roten Streifen – Hoffnung, Glaube und Wohltätigkeit – und die Stadtflagge von Florenz stiegen und fielen im böigen Wind.
»Pronto!« , meldete sich der Bürgermeister aus heiterem Himmel. »Pronto!« Er klang wie der Kassierer in einer besonders betriebsamen Pizzeria.
»Du hast mich angerufen, Dottore«, rief ihm Pallioti ins Gedächtnis.
»Ach ja.«
Es blieb ganz kurz still. Dann sagte der Bürgermeister: »Du musst etwas für mich erledigen.«
Pallioti war versucht zu entgegnen, dass er ohnehin etwas für den Bürgermeister tun würde, und zwar etwas, das ihm zutiefst zuwider war – aufzustehen und bedeutungslose Phrasen über die moderne Polizeiarbeit zu dreschen –, aber dann ging ihm auf, dass genau das sein Problem war. Oder wenigstens teilweise. Er hatte sein ganzes Leben darauf hingearbeitet, jene halbwegs gehobene Position zu erreichen, die er jetzt einnahm, und seit er sie innehatte, hasste er sie, weil er so viel Zeit damit vergeuden musste, über Polizeiarbeit zu sprechen. Oder Berichte über Polizeiarbeit zu schreiben. Was beides nichts mit dem zu tun hatte, weshalb er damals zur Polizei gegangen war. Er war, dachte er und richtete dabei den Blick in den Regen, wie ein Schiff, das sich durch schwere Stürme gekämpft hatte und endlich in den sicheren Hafen eingelaufen war, um dort vor Langeweile zu vergehen, seit es am Pier vertäut lag.
Die Stimme des Bürgermeisters riss ihn aus jenem Augenblick der Erleuchtung.
»Es ist gerade erst passiert«, hörte er ihn sagen. »Ein Schreiberling hat die Pressestelle der Polizei wegen eines Kommentars angerufen. Und dort waren sie tatsächlich schlau genug, mich anzurufen. Gott sei Dank.«
Pallioti runzelte die Stirn; er hatte keine Ahnung, wovon der Bürgermeister redete.
»Was ist gerade erst passiert?«
»Giovanni Trantemento. Sagt dir der Name etwas?«
Pallioti schüttelte erleichtert den Kopf. Es lag nicht nur an ihm. Der Bürgermeister redete wirres Zeug. Auch das war nichts Neues. Diese Unterhaltungen waren wie ein Kreuzworträtsel. Erst am Ende wurde klar, worum es ging.
»Nein«, sagte er. »Giovanni wie?«
»Trantemento. Er war ein Held des Widerstands. Ein Partisan. Heldenhafte Rolle bei der Befreiung und so weiter. Wurde in Rom vom Präsidenten ausgezeichnet. Erinnerst du dich?«
Pallioti erinnerte sich tatsächlich, wenn auch nur ganz allgemein. Vor anderthalb Jahren war endlich eine Garde alter Männer in dunklen Mänteln und Baretten, mit geröteten und nässenden Augen vorgetreten, um die Orden entgegenzunehmen, die sie sich ein halbes Leben zuvor verdient hatten. Danach folgte ein Essen im Quirinale. Mit langen Reden auf die Helden Italiens, die Jungen, die alles gegeben hatten, außerdem im Gedenken an jene, die gestorben waren – ob nun unter den Kugeln der Faschisten oder jenen der Nazis – und denen wir es verdanken, dass wir heute hiersitzen und uns gegenseitig beleidigen können.
»Jemand hat ihn umgebracht«, sagte der Bürgermeister jetzt.
»Was?«
»Ich weiß, ich weiß. Einfach grauenhaft. Ein alter Mann. Siebenundachtzig. In der eigenen Wohnung. Was für ein Tier tut so etwas?«
Ein menschliches, dachte Pallioti giftig.
»Also, du machst das doch, oder?«, fuhr der Bürgermeister fort. »Du behältst die Sache im Auge? Passt auf, dass niemand Mist baut. Solche Geschichten«, fuhr er unheilvoll fort, »können schnell schlecht aussehen. Für die Stadt.«
»Aha.«
»Ich weiß, wie viel du zu tun hast«, ergänzte der Bürgermeister. »Aber so als persönlicher Gefallen?«
»Als persönlicher Gefallen?« Pallioti räusperte sich. Er meinte, einen Anflug von Flehen in der Stimme des Bürgermeisters gehört zu
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