Die Toten der Villa Triste
Umschlag auffiel, der unten im Korb lag. Er war cremefarben und sah eindeutig teuer aus. Und er war ungeöffnet. Sie bückte sich und nahm ihn heraus. Der Umschlag war dick und ziemlich schwer. Die eine Ecke hatte sich gelöst, aber noch hielt der Klebestreifen. Auf der Rückseite war ein Wappen aufgedruckt, ein winziger, sich aufbäumender Drache in einem Kreis. Sie drehte den Umschlag um. Auf der Vorderseite war er in spinnenhafter Krakelschrift an Signor Giovanni Trantemento adressiert. Die Briefmarke, stellte Marta fest, als sie das Licht einschaltete, sah eindeutig britisch aus. Sie seufzte. Rein rechnerisch war Signor Trantemento nur ein paar Jahre älter als sie, aber im Unterschied zu ihr war er wirklich alt.
Anfangs, nach der Romreise, nachdem er diesen Orden bekommen hatte, war er mit federndem Schritt herumspaziert. Oder wenigstens, schränkte Marta ein, ein bisschen schwungvoller durchs Haus geschlurft. Aber im Lauf der Monate war dieser Schwung wieder erlahmt, so als wäre Signor Trantemento ein Spielzeug, dessen Batterie allmählich zur Neige geht. Sein Gesicht war sichtlich schmaler geworden. Hinter seinen runden Brillengläsern wirkte Signor Trantemento, der früher vielleicht nicht als schön, doch gewiss als charmant gegolten hatte, inzwischen tattrig und ständig erschrocken. Ihr war der Gedanke gekommen, dass er womöglich krank war oder etwas Schlimmes erfahren hatte. Aber sie wusste, dass dem nicht so war. Er war inzwischen lediglich bereit zu sterben. Er spürte schon den kalten Hauch der Schattenwelt, die ihre Finger nach ihm ausstreckte.
Sie seufzte, schaltete die Lampe aus und erklomm die Stufen. Sie kam gar nicht auf den Gedanken, dass Signor Trantemento und seine Post sie nichts angehen könnten. Alles, was in diesem Haus geschah, ging sie etwas an. Sie war ebenso ein Teil des Hauses wie die alten Kastanienholztüren und der Messingklopfer mit dem Löwenkopf, den sie jeden Donnerstag polierte.
Giovanni Trantemento wohnte im vierten, dem obersten Stock. Der Palazzo war, soweit Marta wusste, für keine bedeutende Persönlichkeit erbaut worden und auch von niemandem, an dessen Namen man sich heute noch erinnern würde. Für keinen Pazzi oder Strozzi und erst recht keinen Bankierskollegen der Medici. Sie hatte sich oft gefragt, wer wohl diese Mauern hatte errichten lassen, wer zum ersten Mal die Tür aufgedrückt hatte und die Treppe hinaufgestiegen war. Wer es auch war, er würde sich bestimmt ärgern, dass man ihn vergessen hatte. Als das Haus vor fünfhundert Jahren erbaut worden war, hatte es sicherlich tiefen Eindruck gemacht. Ein Monument für die Ewigkeit. Pah. Marta wusste es besser. Sie stand inzwischen auf der hundertfünfzigsten Stufe. Sie hätte den kleinen Käfig von Lift benutzen können, aber das hätte sie nicht bei Kräften gehalten, hätte nicht ihre noch verbleibenden Muskeln gestärkt.
Hier oben ließen die Fenster etwas mehr Licht herein als im Erdgeschoss. Der Regen klopfte und klatschte gegen die Scheiben und färbte die Luft kalt und grau. Signor Trantementos Wohnung hatte eindeutig den besten Blick im ganzen Haus und einen Balkon dazu, trotzdem konnte man sie nicht als wohnlich bezeichnen. Sie erinnerte eher an den Horst eines alternden und zunehmend räudigen Adlers. Auf dem Absatz zwischen dem dritten und dem letzten Stock schaltete Marta das Licht ein, eine gänzlich unpassende Muschel aus gefrostetem Glas.
Als sie die letzten Stufen nahm, kam der Türsturz zur Wohnung von Signor Trantemento mit seinen gemeißelten grauen Steinfrüchten ins Blickfeld. Gleich darauf konnte sie auch das Türblatt mit dem Klopfer sehen, den sie nicht polierte. Signor Trantemento hatte einen Wandteppich an die Mauer im Treppenhaus gehängt. Er zeigte einen Löwen, der ein Banner hielt, während ein Einhorn mit albernem Lächeln den Vorderhuf in den Schoß einer Frau legte. Zwischen den gestickten Blumen kauerten Hasen, Füchse und etwas wie ein unförmiges Wiesel. Im grauen Licht schien der rote Hintergrund des Teppichs zu verlaufen. Er schien aus dem unteren Rand des Teppichs zu sickern und auf den Steinboden zu tropfen. Doch erst als Marta die hundertachtundsiebzigste Stufe erreicht hatte, wurde ihr klar, dass das keine rote Farbe, sondern Blut war.
Alessandro Pallioti hatte ein neues Büro und einen neuen Titel. Beides hatte er den neuesten Bemühungen um Erneuerung und mehr Effizienz bei der Polizia di Stato zu verdanken. Diese Modernisierungsanfälle waren so unvermeidlich
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