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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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jedenfalls nicht Issa oder Carlo oder den Männern. Dann merkte ich, dass Massimo mich beobachtete. Dass er gemerkt hatte, wie ich den Blick abgewandt und die Tränen weggeblinzelt hatte.
    Gleich darauf gingen er und der Junge. Massimo klopfte erst dem Fahrer auf den Rücken, gab dann dem Jungen einen Hieb auf die Schulter, unter dem dieser fast ins Straucheln kam, und verschwand im nächsten Moment mit ihm zusammen in die Dunkelheit. Ich konnte Massimo pfeifen hören, während sie den Weg zur Vorderseite des Klosters und hinunter zum Dorf gingen.
    Issa zog die Riemen ihres Rucksacks straff. Sie warf erst Carlo einen Blick zu, der seine Riemen ebenfalls straff zog, und sah dann auf die drei Männer. Sie nickten, und der letzte zog ein Paar von Ricos alten Handschuhen an.
    Als ich gleich darauf vor dem Schuppen stand und zusah, wie sie langsam den Pfad hinaufstiegen, fühlte ich mich einsamer als je zuvor. Der Krieg hatte nicht nur Misstrauen und Zorn, den Schmerz der Zerstörung, Verlust und Tod über uns gebracht. Sondern vor allem die Einsamkeit. Das war das wahre Grauen. Die Erkenntnis, dass wir, wenn es hart auf hart kam, kein geschlossenes Bataillon waren. Nicht einmal eine Kampfgruppe von Genossen. Im Gegenteil. Jeder von uns war auf sich allein gestellt und kämpfte dort, wo er gerade stand.
    Sie waren schon fast zwischen den hohen Schatten der Bäume verschwunden, als Issa sich aus der Gruppe löste. Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass sie den Weg zu mir herabgelaufen kam. Als sie bei mir ankam, erkannte ich, dass ihr Gesicht glühte. Ihre weit aufgerissenen Augen funkelten in der kalten Nachtluft.
    »Cati!«, sagte sie. »Das hätte ich fast vergessen! Hier.«
    Sie wühlte in ihrer Jackentasche und drückte mir etwas in die Hand. Sie trug keine Handschuhe, und ihre Finger waren kalt.
    »Das ist dein Hochzeitsgeschenk, falls ich bis dahin nicht zurück bin.«
    Ich blickte in das vertraute Oval ihres Gesichts, in die blauen Augen, auf die Löwenmähne. Dann schloss ich sie in die Arme und drückte sie mit aller Kraft. Ich trank ihren Geruch und ihre Wärme und konnte mir beim besten Willen keine Welt und keine Zeit vorstellen, in der es sie nicht gab.
    Schließlich musste ich sie loslassen. Sie drehte sich um, lief den Weg wieder hinauf und wurde dabei immer kleiner, bis sie mit der Dunkelheit verschmolz.
    Ich blieb ein paar Sekunden stehen. Als ich schließlich weder irgendwelche Silhouetten erkennen konnte noch das Laub unter den Kastanienbäumen rascheln hörte, senkte ich den Blick. Es war gerade noch so hell, dass ich erkannte, was sie mir in die Hand gedrückt hatte. Ein kleines Buch, in dessen Bindung ein Stift steckte. In den roten Umschlag war die Florentiner Lilie eingeprägt.
    Gedankenversunken blieb ich stehen, betastete das weiche, teure Leder und fuhr die goldenen Umrisse der Lilie nach, bis ich die knochigen Finger auf meiner Schulter spürte.
    »Wir sollten aufbrechen.«
    Der Fahrer sagte das ganz leise. Im Halbdunkel wirkten seine Augen riesig und farblos. Ich drehte mich um und sah, dass das Tor zum Schuppen aufgezogen worden war. Ich hatte nichts gehört.
    Ich nickte, aber bevor ich losging, streckte ich die Hand aus. Issa hatte mir erklärt, dass sie untereinander Decknamen verwendeten, Begriffe wie Lämmchen vermutlich. Aber ich hatte keinen Decknamen.
    »Caterina«, sagte ich.
    Der Fahrer sah mich an. Im ersten Moment glaubte ich, er würde mir nicht antworten, würde nicht einmal diese kleine Vertrauensgeste erwidern. Dann begann er zu lächeln. Er legte seine Hand in meine.
    »Il Corvo« , sagte er. Die Krähe.
    Ich nickte. Jetzt war ich eine von ihnen.

Zweiter Teil

    Florenz
    1. November 2006

1. Kapitel
    Der Regen kam wie auf Kommando. Er setzte schlagartig am ersten Nachmittag des Monats ein und fegte in langen, heftigen Böen durch die Stadt. Innerhalb weniger Minuten verschwammen die Fensterscheiben, die Mauern weinten, und die Gullys gluckerten wie zornige kleine Sturzbäche. Eine Broschüre über die Uffizien schaukelte vorbei. Botticellis Venus lächelte verträumt vom schäumenden Wasser auf, ging unter und blieb schließlich am Gullydeckel hängen.
    Marta Buonifaccio stand in der Tür des Hauses, in dem sie seit dreißig Jahren lebte, und sah zu, wie sich die Straße leerte. Die Menschen huschen vorbei wie die Ratten, dachte sie, mit gesenktem Kopf und gekrümmtem Rücken. Ein großer Mann mit Aktenkoffer in der Hand fing an zu fluchen und rannte zur

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