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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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wie ein Wetterwechsel. Und sie zeigten, Palliotis Erfahrung nach, wechselnde Ergebnisse. Manchmal waren sie schlicht peinlich, so als würde eine alte Dame in die Disco gehen. Manchmal bewirkten sie tatsächlich etwas, wenn auch nicht unbedingt das, was beabsichtigt gewesen war. Gewöhnlich war es eine Mischung von beidem – ein holpriges, langsames Straucheln auf ein imaginäres Ziel hin.
    Sein Job war ein typisches Beispiel dafür. Genau wie Yeats’ wildes Tier kroch er mehr oder weniger unverändert dahin. Ganz gleich, welche Bezeichnung man ihm gab, er beschäftigte sich unverändert mit den schlimmsten Aspekten der menschlichen Natur. Gier, Grausamkeit, Gewalt, Gedankenlosigkeit und ihre singenden, tanzenden Handlanger – Mord, Diebstahl, Korruption sowie jedes spezielle oder allgemeine Vergehen, das die Menschheit ersann.
    Er drehte sich in seinem Stuhl, als wollte er das säuerliche Gefühl in seinem Inneren aufrühren. Als wollte er den Cocktail aus Missmut und Unzufriedenheit aufschütteln, der seit einem halben Jahr in ihm brodelte. Er klopfte mit dem Stift gegen den ledernen Rand seiner Schreibunterlage, runzelte die Stirn und fragte sich, ob er sich selbst verabscheute, weil er so empfand, oder ob er so empfand, weil er sich verabscheute.
    Letztendlich war beides nicht hinnehmbar. Aber andererseits fand er seit seinem fünfzigsten Geburtstag kaum noch etwas hinnehmbar, angefangen vom Zustand der Welt über seinen Job bis hin zu seiner eigenen Einstellung. Als er sich bei seiner Schwester darüber beschwert hatte, wie unerträglich er sich zurzeit fand, hatte sie nur gelächelt und ihn milde darauf hingewiesen, dass er in der Midlife-Crisis steckte.
    Wahrscheinlich hatte sie recht. Obwohl Seraphina volle vierzehn Jahre jünger war als er, hatte sie so gut wie immer recht. Gelassen wie stets hatte sie ihm erklärt, dass das vorbeigehen würde – und ihn freundlich ermahnt, dass er bis dahin möglichst keinen Sportwagen kaufen und keine junge Sekretärin heiraten sollte.
    Pallioti hatte sie in beiderlei Hinsicht beruhigen können. Seine neue Sekretärin – die man ihm mitsamt dem neuen Büro, dem schwarzen Ledersofa und dem ebenso unergründlichen wie modernen Couchtisch zugeteilt hatte – war zum einen kahl und zum anderenein Mann. Beides war eher nicht nach seinem Geschmack. Was den Sportwagen betraf, so war mit dem neuen Titel zwar ein durchaus großzügiges Gehalt mit ebensolchen Pensionsansprüchen verbunden, aber beides reichte nicht für den Lamborghini, von dem er immer geträumt hatte. Und als Perfektionist würde er sich mit nichts Geringerem zufriedengeben.
    Wieder drehte er sich in seinem Stuhl und sah durch den Halbmond seines Fensters auf die Piazza hinunter. Der Regen peitschte über die weite, leere Fläche und ließ die Gebäude auf der anderen Seite sowie die hohen, eleganten Bögen der Loggia davor verschwimmen. Eine kleine und elend aussehende Touristengruppe hatte Schutz vor dem Regen gesucht. Alle hatten zu viel über die toskanische Sonne gelesen und daher verdrängt, dass der Winter in dieser Stadt nicht nur möglich, sondern unausweichlich war.
    Er sah auf die Uhr, stand auf und zog seine Krawatte gerade, auf der vor einem blauen Hintergrund kleine goldene Löwen mit salutierend erhobener Pranke saßen. Der Florentiner Marzocco. Die Löwen zierten als Gravur auch seine goldenen Manschettenknöpfe. Er hatte sie heute angelegt, weil er in etwa einer halben Stunde bei einem Mittagessen erwartet wurde, das von der Stadt zu Ehren einer EU-Delegation gegeben wurde, die sich angeblich brennend für neue und innovative Methoden der Polizeiarbeit interessierte. Er fürchtete sich davor. Und genoss es in seiner gegenwärtigen Stimmung fast, sich davor zu fürchten. Wenigstens hatte sein Groll auf diese Weise ein Ziel.
    Er schlüpfte in sein Sakko, zog die Manschetten nach unten und war gerade damit beschäftigt, sie auf exakt gleiche Länge zu bringen, als das Telefon läutete.
    Sein Sekretär, den er nicht zu heiraten beabsichtigte, ein blauäugiger junger Mann namens Guillermo, dessen Kopf so kahl und blank poliert war wie eine Marmorkugel, sagte: »Dottore, der Bürgermeister.«
    Pallioti verdrehte die Augen. Er kannte den Bürgermeister seit fast fünfundzwanzig Jahren und betrachtete ihn, trotz des bevorstehenden Essens, als Freund. Aber er war ein Kommunist alter und neuer Schule, der sich ständig Sorgen machte, sich über alles den Kopf zerbrach und alles argwöhnisch und mit dem

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