Die Toten der Villa Triste
verändert – es war beklemmender geworden. Als hätten wir einen Druckverband angelegt bekommen, der allmählich die Blutzufuhr abschneidet.
Die faschistische Regierung hat verkündet, dass Sondertribunale eingerichtet werden sollen, um über jene Parteimitglieder zu richten, die »den Glauben verraten« haben, und auch alle anderen, die ihrer Meinung nach das Regime »in Sprache oder Tat« hintergangen haben. Das könnte, natürlich, jeden treffen. Sollte ein ehemaliges Parteimitglied schuldig gesprochen werden, droht ihm die Todesstrafe. Uns anderen drohen fünf bis dreißig Jahre Gefängnis. Papa fand tatsächlich etwas Gutes daran und behauptete, das zeige, wie verängstigt die Faschisten seien. Während er darüber dozierte, sahen Mama und ich uns über den Tisch hinweg an. Ich brauchte sie nicht zu fragen, ich wusste auch so Bescheid. Wir dachten beide das Gleiche – dass verängstigte Tiere sich am verbissensten wehren. Vor allem, wenn sie glauben, dass sie nichts mehr zu verlieren haben.
Seit jenem Abend in der Küche kommt das öfter vor. Meine Mutter, die mir bis dahin nie besonders nahestand, die zeit meines Lebens ihre ganze Liebe für Enrico zu reservieren schien, kommt mir plötzlich vor wie ein Teil meiner selbst. Manchmal meine ich in einen Spiegel zu blicken. Aus ihren Augen, unserer einzigen äußerlichen Gemeinsamkeit, blicken mich meine an. Zum ersten Mal verbinden uns hauchdünne Bande, feine, seidige Spinnweben der Angst und des Mitgefühls. Dieser Krieg hat meine Mutter und mich zu Spinnen gemacht, die gemeinsam an einem Netz weben. Oder, nicht ganz so optimistisch, zu Fliegen, die sich darin verfangen haben.
Sie hat angefangen zu kochen. Ihre Opfergaben sind oft angebrannt oder noch blutig oder klumpig oder schlicht roh. Aber das ist mir egal. Gestern Abend kam ich sehr spät nach Hause. Die Straßen lagen im Dunkeln, und mir war kalt. Dank meiner Armbinde kann ich überall passieren, trotzdem habe ich inzwischen ständig das Gefühl, Schritte in meinem Rücken zu hören. Unter dem Surren meiner Fahrradreifen bilde ich mir Schreie ein. Mehrmals habe ich Bremsen quietschen und gleich darauf hastende Schritte gehört. Einmal sogar Schüsse. Mama hatte Karamellcreme gemacht. Ich will gar nicht daran denken, wie viel die Eier gekostet haben müssen. Papa war schon zu Bett gegangen, und das ganze Haus war dunkel. Sie saß mit mir am Küchentisch und verfolgte mit Blicken jeden Löffel, den ich zum Munde führte, und zwar so eindringlich, wie sie es nie getan hatte, als ich noch klein gewesen war. In der Creme war kaum Zucker, und die Milch hatte einen Stich und flockte aus. Trotzdem kratzte ich die Schale aus. Es war das Leckerste, was ich je gegessen habe.
Lebensmittel werden inzwischen immer teurer. Dank Großvaters Vermögen und des Schwarzmarkts kommen wir dennoch über die Runden. Solange man weiß, wo man suchen muss, findet man immer noch alles Notwendige und sogar einige Annehmlichkeiten. Aber es wird immer schwieriger, weil die Banken inzwischen keine Schecks mehr einlösen wollen und die Abhebungen beschränken. Und manche Dinge sind mit oder ohne Geld kaum noch zu bekommen. Benzin gibt es so gut wie keines mehr. Die Deutschen beschlagnahmen alles. Gestern hörte ich, dass ein Lastwagen die Via Tuornabuoni hinabgefahren sei und man alle Läden geplündert, sämtliche Wollwaren, Handschuhe, Schuhe und Stiefel aus dem Regal geräumt habe. Unsere Ausgrabungsarbeiten im Krankenhauskeller erscheinen mir jetzt nicht mehr so albern wie noch vor zwei kurzen Monaten. Ich habe es aufgegeben, mir einen neuen Mantel kaufen zu wollen. Mama hatte noch einen alten übrig, den ich jetzt benutze. Wenn ich den Kragen hochschlage, rieche ich ihren Puder und ihre Seife, fast als würde sie ihre Hand an meine Wange legen.
Ich habe begonnen, auf der Straße nach Issa Ausschau zu halten. Aus irgendeinem Grund wusste ich, dass sie nicht zu uns nach Hause kommen würde, dass sie nicht einfach vor unserer Tür stehen und eintreten würde. Tief im Herzen weiß ich, dass diese Wanderungen durch die Berge, die Entscheidungen, die sie inzwischen getroffen hat, sie für alle Zeiten verändern werden. Ich glaube, hauptsächlich wollte ich sie nicht gehen lassen, weil ich wusste, dass ein Teil von ihr – die kleine Issa, die ich immer gekannt hatte – nicht zurückkehren würde. Natürlich liegt das allein an Carlo. Das Herz, das Isabella so fest verschlossen hatte, ist plötzlich weit aufgeblüht. Jeder, der
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