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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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Seitentür hinaus. Sie folgten ihr im Gänsemarsch wie die Küken der Glucke. Carlo bildete die Nachhut. Kurz bevor er durch die Tür huschte, drehte er sich zu mir um und strich mir über die Wange.
    »Hab keine Angst, Caterina«, flüsterte er. Er zwinkerte, und ein Lächeln zog über sein Gesicht. »Gott weist uns den Weg.«
    Früher hätte ich Carlo vielleicht erklärt, dass ich nicht an Gott glaubte. Trotzdem war ich dankbar für die netten Worte.
    Draußen sah ich sie wie Phantome dahinziehen, sechs schwarze Gestalten vor vereinzelten weißen Schneeflecken. Lange, nachdem sie verschwunden waren, meinte ich noch das Stapfen ihrer Stiefel im toten Laub zu hören. Dann verloren sich die Schritte in einer raschelnden Brise, und gleich darauf strich nur noch der Wind über die Berge.
    Il Corvo ließ mich in einer Seitenstraße nahe der Porta San Frediano aussteigen. Ich weiß nicht, wo sie den Krankenwagen verstecken, und ich fragte auch nicht danach. Ich wollte ihm irgendetwas zum Abschied sagen, was erkennen ließ, dass wir befreundet waren oder dies zumindest gemeinsam durchstehen würden, aber letzten Endes wollte mir nichts einfallen, darum nickte ich ihm nur stumm zu. Obwohl es dunkel war, sah ich ihn lächeln. Das Lächeln schien nicht recht zu seinem Gesicht zu passen, so, als wäre es ihm fremd.
    Ich hatte mein Fahrrad beim Krankenhaus stehen lassen, darum ging ich zu Fuß nach Hause. Schnee blies von den Stufen der Santa Maria del Carmine und tanzte über die Piazza, als wäre er das Einzige, was in der Stadt noch lebte. Sogar die Glocken klangen ausdruckslos, als würden sie lediglich Geister zum Gebet rufen. Heute Abend hörte ich keine Schritte. Auch keine Schüsse oder quietschenden Bremsen. Ich musste an Boccaccio und die Pest denken. Ich hätte die letzte Überlebende sein können, denn nirgendwo regte sich etwas außer mir und dem Wind und dem Schnee.
    Ich sah kein Licht hinter den Fensterläden brennen, als ich den Schlüssel ins Schloss schob, doch Mama wartete noch auf mich. Sie stand vom Sofa auf, auf dem sie im Dunkeln gesessen hatte. Diesmal gab es keine Karamellcreme, nur Suppe und altes Brot. Wieder saß sie mir am Küchentisch gegenüber und sprach kein Wort. Schweigend schaute sie mir beim Essen zu.
    Ich schreibe das in meinem Zimmer. Es ist kalt, und ich bin müde, aber ich finde keinen Schlaf. Ich habe ein kurzes Gespräch mit Lodo geführt. Es ist albern, aber ich öffnete meinen Schrank, strich über mein Hochzeitskleid und fragte ihn, ob er es schön fand und was er von alldem hielt. Ich schloss die Augen und sah ihn lächeln. Dann öffnete ich das Fenster und klappte die Läden zurück. Die Nacht ist mondlos, und ich brauchte ein paar Sekunden, um etwas in der Dunkelheit ausmachen zu können, aber schließlich sah ich sie am Horizont stehen – die Berge, durch die sich Issa wie ein Phantom bewegt. Ich blieb so lange am Fenster stehen, wie ich nur konnte, und starrte hinaus – als hoffte ich, sie irgendwo unter den Nadelstichen der Sterne zu entdecken.

6. Kapitel
    »Ssandro!«
    Pallioti hörte seine Schwester rufen und sah auf. Er klappte die Akte zu, die offen vor ihm gelegen hatte. Der Fahrer hatte sie ihm überreicht, als er sich am Flughafen in den Wagen gesetzt hatte. Es war keine erfreuliche Lektüre.
    Die Spurensicherung hatte in Giovanni Trantementos Wohnung praktisch nichts gefunden – keine identifizierbaren Finger- oder Fußabdrücke und nur ein wenig Straßenschmutz, der von irgendwelchen Schuhen stammen konnte. Der Bericht über die Kugel, die so mühsam aus Trantementos Schädel geborgen worden war, half auch nicht weiter. Sie hatte das Kaliber .22, war etwa drei Jahre alt und so weit verbreitet wie Dreck. Tatsächlich war es, wie Enzo in einer Randnotiz vermerkt hatte, mehr oder weniger die am weitesten verbreitete Munition auf der Welt. Sie wurde seit Jahrzehnten verwendet, konnte in Gewehren und Pistolen verschossen werden und war bei Jägern wie Schützenvereinen beliebt, weil sie billig, vielseitig und relativ leise war. In anderen Worten, es war die perfekte Wahl.
    Pallioti wünschte, er könnte das für Zufall halten, aber das tat er nicht. So unangenehm ihm der Gedanke auch war, es sah ganz so aus, als hätte jemand Giovanni Trantemento den Tod gewünscht. Und als hätte er sich genau überlegt, wie er seinen Wunsch in die Tat umsetzen konnte.
    Der einzige Lichtblick, wenn man es denn so nennen wollte, war die Tatsache, dass die Kugel auffällige Kratzer

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