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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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sie kennt, sieht ihr das an. Aber das ist nicht alles. Mama, Papa und ich – wir werden kämpfen. Unser Bestes tun. Uns so wenig fürchten wie möglich, weil wir überleben wollen. Isabella jedoch führt einen ganz anderen Kampf. Sie liebt diesen Krieg genauso wenig, wie wir es tun, aber durch ihn hat sie ihren Platz in der Welt gefunden.
    Ich fing an, nach ihr Ausschau zu halten, wenn ich zur Arbeit radelte, ich suchte die Gesichter der Passanten ab und wartete darauf, ihre Hand auf meiner Schulter zu spüren, wenn ich auf der Straße stand. Und genau so habe ich sie gefunden.
    Es war früh am Morgen des fünften Tages. Das Licht lag noch perlend auf dem Fluss, und ich stand mit meinem Fahrrad auf der Brücke und wartete darauf, die Uferstraße überqueren zu können. Dann war die Straße frei, ich blickte auf und sah sie auf dem Gehweg gegenüber stehen. Es war kalt geworden. In der Nacht hatte der erste Schnee die Stadt bestäubt. Sie trug ein Kleid und einen Mantel, den ich noch nie gesehen hatte, und sie hatte ein Tuch um den Hals gelegt. Sie sah mich an und lächelte. In ihren Augen sah ich die Berge, strahlend und glitzernd. Ich ging über die Straße, und sie ging neben mir her, die Hände tief in den Taschen vergraben, als wäre gar nichts passiert.
    »Seit wann bist du wieder hier?«
    Ich brauchte ein paar Sekunden, bevor ich das fragen konnte. Ich hatte damit gerechnet, dass sie sich verändert hatte, aber ich wusste noch nicht recht, inwiefern. Ich sah sie immer wieder an und versuchte zu begreifen, wie es möglich war, dass sie sich gleichzeitig so völlig verändert hatte und trotzdem die Alte geblieben war. Während sie voller Tatendrang ausschritt, strahlte sie eine innere Ruhe und Aufgewecktheit aus, die völlig neu waren. Ich erkannte, dass ich Isabella immer für flatterhaft gehalten hatte – hübscher, jünger, irgendwie inkonsequenter als ich. Fast erschrocken begriff ich, dass ich sie nie wieder so sehen würde.
    »Seit einem Tag.«
    »Ist alles gut gegangen?«
    »Alle Päckchen wurden abgeliefert.« Sie lächelte. »Deine Zigaretten waren sehr willkommen.«
    Ich hatte das Päckchen in ihren Rucksack gesteckt. Als sie davon anfing, musste ich an Dieter denken und sah mich kurz um, als könnte ich ihn irgendwo hinter uns entdecken.
    Issa nahm mich unauffällig am Arm.
    »Nicht«, sagte sie. »Du darfst dich nie umsehen oder plötzlich schneller gehen. Wenn du wissen willst, wer hinter dir geht, dann bleib stehen und sieh in ein Schaufenster.«
    Sie ließ meinen Arm los und sah mich kurz an. Ihre blauen Augen waren so dunkel, dass sie fast schwarz wirkten.
    »Sie tragen bestimmt keine Uniform«, murmelte sie. »Vergiss das nie. Es sind Italiener. Sie sehen nicht anders aus als wir.«
    Ich nickte wie betäubt. Natürlich hatte ich schon von der OVRA gehört, der faschistischen Geheimpolizei. So wie jeder. Aber bis dahin war ich nicht auf den Gedanken gekommen, dass sie sich für mich interessieren könnte.
    »Und wie …«
    »Gesichter«, sagte Issa. »Du musst auf die Gesichter achten. Auf der Straße. Im Café. Im Krankenhaus. Egal wo. Menschen, die dir allzu oft begegnen.«
    »Kommst du deshalb nicht nach Hause? Weil …« Der Drang, mich umzusehen, war beinahe unerträglich. Issa sah mir das an der Nasenspitze an. Sie ergriff erneut meinen Arm.
    »Richte Mama und Papa aus, dass es mir gut geht.«
    Ich nickte, aber ich konnte mich nicht länger beherrschen.
    »Wo wohnst du jetzt?« Die Frage platzte aus mir heraus. »Wie kann ich dich wiedersehen?«
    »Genau so. Oder ich komme ins Krankenhaus.«
    Inzwischen spazierten wir über die Piazza Signoria. Die Menschen eilten hin und her, hasteten zur Arbeit. Die Hakenkreuze, die hinter dem Brunnen im Wind klatschten, wirkten wie Spinnen, die dem Himmel entgegenkletterten.
    Issa beobachtete mich. »Ich bin an der Universität«, sagte sie. »Oder in den Bergen. Mit Carlo.«
    »Weiß Enrico das mit dir und Carlo?« Wieder entschlüpfte mir die Frage, bevor ich an mich halten konnte.
    Sie blieb stehen, lachte.
    »Ja, Cati«, sagte sie. »Enrico weiß Bescheid.«
    Sie hätte ebenso gut sagen können: »Die ganze Welt weiß Bescheid.«
    »Ist er …?«, setzte ich an. »Ich meine, geht es ihm gut? Rico?«
    Issa sah mich an. Dann lachte sie wieder und tätschelte meine Hand. »Ja«, sagte sie. »Es geht ihm gut. Er lässt dich küssen.« Dann ging sie weiter.
    Ich blieb kurz stehen, den Fahrradlenker in der Hand, und sah die Sonne in dem goldenen

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