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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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lang vergessenen Freundes in einer Menschenmenge. Nur ein einziges Geschäft in der Stadt verkaufte diese Bücher, eine muffige alte Höhle von einem Schreibwarenladen in einer namenlosen Seitengasse nicht weit von der Via Purgatorio.
    Die kleinen Bücher mit der eingeprägten Lilie gab es in den verschiedensten Farben. Sie wurden in weichen Leinenbeuteln und oft paarweise verkauft. Verabredungen, Erzählungen, Liebesgeflüster, Träume – all die entscheidenden, vergessenen Nichtigkeiten, die das Leben ausmachten, waren über Generationen hinweg von den Florentinerinnen in genau solchen Büchern festgehalten worden. Palliotis Mutter hatte ihres in der Geheimschublade in ihrem Schreibtisch aufbewahrt.
    Ihr Buch war dunkelblau gewesen, ihre Lieblingsfarbe. Als Kind hatte er oft den versteckten Riegel zurückgeschoben und es herausgeholt. Manchmal hatte er einfach nur dagesessen, die Zehenspitzen dem Boden entgegengestreckt und das Buch an seine Wange gedrückt, statt die kleinen, vollgeschriebenen Seiten zu studieren, weil der Einband genauso weich war wie ihre Haut und die Seiten nach ihrem Parfüm rochen.
    Die Erinnerung kam so plötzlich, dass er gegen Tränen anblinzeln musste.
    Der Umschlag dieses Buches war zerschlissen, das Rot verblasst, das Gold der eingeprägten Lilie abgeblättert. Der Rücken war noch intakt – das war zu erwarten, schließlich war er handgenäht –, aber das Vorsatzblatt war wasserfleckig und die Widmung darauf kaum zu entziffern. Pallioti schaltete das Leselicht ein und hielt die fleckige Seite in den Lichtstrahl. Er erkannte eine Adresse – eine ihm bekannte Straße abseits der Via Senese, wenn auch ohne Hausnummer, und dazu ein Datum – 1. November 1943. Darunter die Widmung: Für Caterina Maria Cammaccio, die allerschönste Braut in ganz Florenz – von ihrer Schwester Isabella.
    Die Buchstaben waren nur noch ein Schatten. Isabella hatte sich für eine lila Tinte entschieden, die damals schon ziemlich blass gewesen sein musste. Caterina Cammaccio hingegen hatte sich mit konventionellem Schwarz begnügt. Er blätterte um, blickte auf die winzige, enge Schrift und spürte einen schmerzlichen Stich, als er begriff, dass er sich nicht erinnern konnte, mit welcher Tintenfarbe seine Mutter geschrieben hatte, und dass ihm – obwohl er bei ihrem Tod schon zehn gewesen war und jahrelang in ihren Tagebüchern gelesen hatte – kein Wort aus ihren Aufzeichnungen im Gedächtnis geblieben war. Allein die Tatsache, dass sie die Seiten mit ihren Händen glatt gestrichen und auf dem marmorierten Papier ihre Handschrift hinterlassen hatte, Zeichen, die so unverkennbar waren wie die Streifen eines Zebras oder die Tupfen eines Leoparden, hatte sie ihm nähergebracht.
    Er sah sich unauffällig um, ob ihn jemand beobachtete, und hob dann das kleine rote Buch an seine Nase. Aber nicht einmal ein Anflug von Jasmin stieg daraus auf. Das narbige Leder und die dicken, welligen Seiten in Caterina Cammaccios Buch rochen ausschließlich nach Staub und Schatten.

Dritter Teil

5. Kapitel
    Florenz, 10. November 1943
    Ich kann nicht beschreiben, wie ich mich fühlte, als ich wieder in den Krankenwagen stieg und von Fiesole nach Florenz hinabfuhr. Als wir uns eine Stunde zuvor durch die Straßensperre geschmuggelt und zugeschaut hatten, wie die Schranke angehoben wurde, damit wir mit – nicht drei »armen Burschen« – sondern zwei amerikanischen und einem britischen Kriegsgefangenen hinten im Krankenwagen den Hügel hinauffahren konnten, hatte mich etwas ergriffen, das weit über bloße Erleichterung hinausging. Es war eine Art tiefer Dankbarkeit dafür, am Leben zu sein. Doch dann hatte ich Issa weggehen sehen, in die Berge, strahlend vor Freude, weil sie das tun konnte, was sie am allerliebsten tat, und auch weil sie in Carlo verliebt war – und im selben Moment hatte mir die Trauer die Luft abgeschnürt. Ganz und gar. Ich stand da, sah sie kleiner werden und fühlte mich, als wären wir beide zu einer Art Sanduhr verbunden, die das Leben auf den Kopf gestellt hatte, sodass mein ganzes Leben zu ihr hinabrieselte.
    Deshalb empfand ich es, auch wenn das verrückt klingt, fast wie eine Erlösung, als Il Corvo mir seinen Namen verriet. Als eine Art Bestätigung. Ein leises Flüstern – als hörte man ein zweites Herz in der Dunkelheit schlagen.
    Fünf Tage wartete ich darauf, dass Issa heimkommen würde, und bis sie schließlich kam, schien sich erneut alles verändert zu haben. Nein, eigentlich nicht

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