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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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die stille Heiterkeit von San Miniato. Vielleicht, dachte Pallioti, war dies genau darum einer seiner liebsten Plätze in der Stadt. Die Carmine bemühte sich nicht, den Besucher zu verführen. Er drehte sich um und sah zu ihr auf. Die Straßenlaternen legten harte Schatten über die Fassade und ließen sie fast düster wirken. Ein passendes Heim für jene, die aus Eden vertrieben worden waren.
    Saffys Galerie war früher eine Kapelle gewesen und hatte danach als Lager gedient. Seine Schwester hatte ein kleines Vermögen dafür ausgegeben, sie erst zu entkernen und dann zu beleuchten.
    »Hier.«
    Sie schloss die Tür auf, nahm Pallioti bei der Schulter und führte ihn in die Mitte des dunklen Raums. Er hörte sie weggehen und stand eine Sekunde lang inmitten unsichtbarer Bilder, die an den Wänden um ihn herum schwebten. Dann schaltete sie das Licht ein.
    Direkt vor ihm hing ein Wolkenpanorama – ein hohes, dünnes, blassblaues Jagen, durchbrochen lediglich von dem schwarzen Spitzengewebe winterlicher Baumwipfel. Direkt daneben sah er eine abblätternde Tür, auf deren Sturz sich Schnee angehäuft hatte. Drei Stufen führten zur Tür. Eine dunkle Fußspur führte von ihr weg. Ein leerer Raum mit nichts als einem Tisch und einem Stuhl blickte auf ein vereistes Fenster. Ein brachliegendes Feld war von dunklen Pflugscharen durchzogen. Der Titel der Ausstellung, Winterlinie , hing von der hohen Decke; das Wort, in Glas geschnitten, schien in der Luft zu verharren. Darunter schwebte der Druck einer Engelsskulptur. Grau auf Grau hoben sich die gerieften Flügel von der Marmorwand ab. Neben diesem Foto hing eines von einem Torpfostenpaar. Schnee hatte sich an ihrer Basis angehäuft. Er wölbte sich über dünne Grasfinger und betupfte die Felder zu beiden Seiten eines Feldwegs, der sich in der Ferne verlor und in einem nebligen Gazeschleier begann und endete.

    15. November 1944
    Unsere Nachbarn, die Banduccis – Signor, Signora und ihre beiden Kinder, ein Junge und ein Mädchen – wohnen jetzt bei uns. Vorübergehend. Bitte, lieber Gott, lass es nur vorübergehend sein. Es tut mir leid, ich weiß, dass ich Mitleid mit ihnen haben sollte, und das tue ich auch. Trotzdem kann ich sie nicht leiden. Sie wohnen seit vielleicht zehn Jahren in unserer Straße, aber wir haben sie von Anfang an gemieden, denn es war allgemein bekannt, dass sie ergebene Faschisten sind. Sie hatten ein Foto von sich und Mussolini auf dem Kamin stehen und reden ständig vom Ruhme Italiens und von der erlösenden Kraft der heiligen Messe.
    Zumindest redet die Signora ständig davon. Sie ist unterwürfig und aufdringlich zugleich, sie begutachtet unsere Sachen – das Mobiliar, das Silber – und lässt sich dann über ihre Qualität aus. Oder über die mindere Qualität, wie sie meint. Sie befingert alles, wenn sie glaubt, dass niemand es sieht, fährt mit dem Daumen über die Kanten der Bilderrahmen, um zu prüfen, ob sie staubig sind, und starrt in die geblümte venezianische Vase im Flur, als könnte dort etwas Verdächtiges versteckt sein. Ihr Mann ist viel stiller. Meist hält er sich im Wohnzimmer auf und sieht fassungslos drein – was man ihm wohl nachfühlen kann. Ihr Haus fing mitten in der Nacht Feuer und brannte bis auf die Grundmauern ab. Es ist ein kleines Wunder, dass alle lebend herauskamen, und sie haben alles verloren. Darum, wie gesagt, sollten sie mir eigentlich leidtun. Die Signora redet ununterbrochen davon, dass sie nach Ravenna ziehen sollten, um bei ihren Cousinen zu wohnen, deren Villa viel eleganter ist als unser Haus. Dort hätte jeder ein eigenes Zimmer, sie müssten sich nicht wie bei uns zwei Gästezimmer teilen. Ihre Kinder plappern ihr das nach wie ein neu gelerntes Lied. Der Junge trägt Enricos alte Knabenhosen aus der Truhe mit seinen Kindersachen. Das Mädchen eines meiner alten Kleider. Gestern hat Mama die Kleine beim Stehlen ertappt. Es war nur ein altes Brötchen, aber Brot wird immer knapper. Als Mama ihr das Brötchen wegnahm und ihr erklärte, dass wir alle teilen müssten, zischte die Kleine sie an wie eine Katze. Später habe ich sie in Issas Zimmer erwischt.
    Ich war nach oben gegangen und hatte gemerkt, dass die Tür nur angelehnt war. Als ich sie zuziehen wollte, sah ich sie – die Tochter der Banduccis – an Issas Frisiertisch sitzen.
    Sie drehte sich um, sodass das Licht aus dem Flur auf ihr Gesicht fiel, und ich stieß einen Schrei aus. Ich dachte, sie würde bluten, sie hätte sich geschnitten

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