Die Toten der Villa Triste
gezähmt hatte. Wenn aus ihm doch noch ein anständiger Mensch geworden war, wenn er heute wenigstens ein bisschen umsichtiger war als der arrogante junge Mann von damals, dann hatte er das Saffy zu verdanken. Als sie Leonardo Benvoglio geheiratet hatte – einen älteren, erfolgreichen Geschäftsmann, der kaum jünger war als Pallioti –, hatte Pallioti den Bräutigam beiseitegenommen und ihm ohne jede Boshaftigkeit erklärt, dass er ihn umbringen würde, falls er Seraphina jemals Leid zufügen wollte. Und dass er es schnell und schmerzvoll tun würde.
Man musste Leonardo zugutehalten, dass er diese Ankündigung so auffasste, wie sie gemeint war. Nicht als Drohung. Sondern als Feststellung.
»Also …« Sie hatten sich gesetzt und wurden von Bernardo bedient, dem Besitzer des Restaurants, in dem Pallioti, wie Saffy manchmal scherzte, »ein Abo« hatte. »Entschuldige meinen Aufzug.«
Sie sah an ihrem Rollkragenpullover, den Jeans und den Stiefeln hinab, die zum Vorschein gekommen waren, als Bernardo ihr den Mantel abgenommen hatte. Die Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zurückgekämmt, und ihre kleinen Hände waren verschrammt und mit Farbe bekleckert. Nur der ziemlich große Diamantring an der linken Hand und die passenden Ohrringe verrieten, dass sie keine typische Florentiner Hausfrau war, wie immer die auch aussehen mochte.
»Ist die Ausstellung fertig?«
Saffy nickte und ließ sich von Bernardo ein Glas Wein einschenken.
Seraphina Benvoglio war eine bekannte Fotografin. Für ihre Stillleben und Landschaftsaufnahmen wurden ansehnliche Beträge bezahlt. Mehrere davon waren kürzlich von kleineren, aber bedeutenden europäischen Museen angekauft worden. Sie hatte eine eigene Galerie im Borgo San Frediano. Über ihre Ausstellungen wurde inzwischen landesweit berichtet.
»Wirst du kommen?«
Sie sah von der Speisekarte auf. Pallioti hatte jede Ausstellung besucht, die sie je gemacht hatte, von ihrer ersten in einem düsteren Studentenkollektiv am Stadtrand von Modena bis zu den wesentlich schickeren zweijährlichen Schauen, die sie inzwischen veranstaltete. Die jüngste Ausstellung sollte am folgenden Abend eröffnet werden.
»Wenn ich es schaffe.« Er schnitt eine Grimasse. »Und wenn nicht«, ergänzte er schnell, »dann komme ich garantiert noch im Lauf der Woche vorbei. Ehrenwort.«
Sie lächelte und hob die Hände.
»Solange du überhaupt auftauchst. Wenn du nicht kommst, bringt das Unglück. Tommaso wäre schrecklich enttäuscht«, erklärte sie.
Tommaso war Saffys und Leonardos Sohn und nicht nur Palliotis Neffe, sondern auch sein Patenkind. Mit seinen fünf Jahren hatte er sich bereits zum Kenner von Spiderman und Batman entwickelt – die er beide für enge Verwandte seines Onkels zu halten schien. Wahrscheinlich konnte sich Pallioti glücklich schätzen, dass der kleine Junge seine Liebe zu Shrek noch nicht entdeckt hatte.
»Ich wünschte, ich hätte ein Superhelden-Cape«, murmelte er. So viel dazu, dass er den Inhalt der Akte vergessen wollte.
Saffy sah ihn an und legte die Speisekarte beiseite. Es hatte sowieso keinen Zweck, sich im Lupo ein Gericht aussuchen zu wollen. Was sie auch bestellten, Bernardo würde ihnen bringen, was sie seiner Meinung nach essen sollten. Er behauptete, er könne Pallioti ansehen, wonach dem der Sinn stand. Diese kulinarische Gedankenleserei war bestenfalls anmaßend und hatte wahrscheinlich mehr mit den überschüssigen Vorräten in der Küche als mit Palliotis Lächeln oder seinem finsteren Gesicht zu tun. Aber es tat eigentlich nichts zur Sache. Bislang hatten sie noch nie Grund zur Beschwerde gehabt. Heute Abend begannen sie mit einem Teller dicker gegrillter Waldpilze, die mit feinen, bleichen Parmesanspänen bestreut waren.
»Doch nicht wegen dieses alten Mannes, oder?«
Saffy spießte einen Pilz auf und sah ihn an. Abgesehen von Enzo und dem Bürgermeister war sie die Einzige, mit der er je über seine Arbeit sprach. Selbst die Gerichtsmedizinerin und der Ermittlungsrichter erfuhren nur selten mehr, als sie Palliotis Meinung nach zu wissen brauchten. Pallioti hatte nichts für Klatsch übrig. Und Spekulationen machten ihn nervös.
»Doch«, sagte er, »ganz genau.« Er stach heftiger als notwendig auf einen Pilz ein. »Wie viel weißt du darüber?«
Saffy sah ihn über die Brille hinweg an. Mit den runden Gläsern sah sie ein bisschen aus wie eine kleine Eule.
»Ich habe die Zeitung gelesen.«
Er stöhnte. Weder auf dem Hinflug noch auf dem
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