Die Toten der Villa Triste
Mutter gestorben war.
Langsam aß er den Teller leer. Er wusste, dass er genug gegessen hatte, und verzehrte sich doch nach mehr.
»Und, war es einer?«, fragte Saffy.
Dabei setzte sie die Brille ab, steckte sie in die Handtasche und ließ den tiefroten, fast violetten Wein im Kelch ihres Glases kreiseln.
Pallioti brauchte sie nicht zu fragen, was sie meinte. Im Laufe der Jahre hatten sie gelernt, die Gedanken des anderen erstaunlich genau zu lesen.
»Nein.« Er schob den leeren Teller von sich weg und griff ebenfalls nach seinem Glas. »Anfangs dachte ich wirklich, dass wir es mit einem gescheiterten Einbruchsversuch zu tun haben. Mit einem weiteren alten Menschen, der jeden, der vor seiner Tür steht, für einen Freund hält.« Er atmete tief ein. »Auf den ersten Blick sah es ganz danach aus. Ich will damit sagen, dass ich so etwas erwartet hatte. Dass sich jemand als Gasmann ausgegeben und dann in die Wohnung gedrängt hatte, um die Stereoanlage zu klauen. Oder den BlackBerry. Oder was man heute so klaut.«
»Das Silber«, sagte Saffy. »Es wird immer noch das Silber geklaut.«
»Also, nicht in diesem Fall. Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass überhaupt etwas gestohlen wurde.«
»Nein?«
»Nein. Dafür sprechen gewisse …«, Pallioti sah sie an, »… gewisse Umstände.«
Saffy lächelte. »Wirst du mir verraten, was für Umstände das sind?«
»Nein«, sagte er. »Vorerst nicht.«
Sie zog die Brauen hoch. »So schlimm?«
»Ziemlich übel. Und befremdlich«, ergänzte er bedächtig. Dann sagte er: »Darum war ich heute in Rom. Um mit seinen Verwandten zu reden. Unter anderem.«
»Oh. Das tut mir leid.«
Sie wusste, wie ihn das mitnahm. Wie sehr es jeden Polizisten mitnahm, wenn er das Leben der Opfer zerpflücken musste, während die Angehörigen, ob sie den Toten nun geliebt hatten oder nicht, verzweifelt darum kämpften, wenigstens ein halbwegs vertrautes Bild ihres Mannes, ihrer Frau oder ihres Kindes zu bewahren.
»Seine Mutter war Jüdin«, erzählte Pallioti. »Er hat sie ins Ausland geschmuggelt. Giovanni Trantemento. Er hatte seine Mutter und seine Schwester während der Besetzung ins Ausland geschmuggelt. In die Schweiz.«
»Das war bestimmt nicht einfach.«
»Nein. Aber die Partisanen machten so etwas. Und andere.«
»Ich kann mir das gar nicht vorstellen«, sagte Saffy plötzlich. »Du etwa? Was muss das für ein Leben gewesen sein? So gejagt zu werden?« Sie setzte das Weinglas ab. »Oder sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen – um andere Menschen zu retten? Menschen, die du nicht einmal kanntest. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie tapfer man dafür sein muss.«
Pallioti lächelte. Eine blonde Strähne hatte sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst und flatterte über ihr Kinn. »O doch, das kannst du wohl«, sagte er.
Bernardo hielt auf sie zu, zwei winzige Gläser zwischen die Finger gehakt. In der anderen schinkengroßen Pranke baumelte eine Flasche Grappa. Er schenkte einen Fingerbreit in jedes Glas und entschwand dann mit ihren Tellern.
»Salute . « Saffy leerte ihres auf einen Schluck und ließ den geschmeidigen, dickflüssigen Schnaps hinten über die Zunge rollen. »Du kannst am Sonntag nicht, stimmt’s?«
Pallioti nickte. Immer, wenn es ihm irgendwie möglich war, aß er sonntags mit seiner Schwester und seinem Schwager sowie den ausgewählten Freunden, die Saffy auftreiben konnte, zu Mittag. In dieser Woche musste er jedoch selbst diesen hochheiligen Nachmittag dem Betrugsfall opfern.
»Und ganz egal, was du sagst, ich weiß, dass du es morgen nicht schaffen wirst. Also komm mit …« Sally setzte ihr Glas ab. »Ich will dir etwas zeigen. Danach bekommst du auch ein Gelato.«
Die Galerie Benvoglio befand sich am westlichen Rand des Oltrarno, außerhalb der Mode-Enklave des Borgo San Jacopo und der Boutiquen in der Via Santo Spirito. Im Gegensatz zu der trendigeren Umgebung hatte dieser Bereich etwas Morbides bewahrt. An einem Vorwinterabend wie diesem, an dem die Laternen ausfransende Lichtkegel in die klamme Luft warfen, konnte man immer noch glauben, dass hier Künstler arbeiteten.
Schmucklos und aus unverputztem Stein ragte die riesige honigfarbene Fassade der Carmine hinter Saffy und Pallioti auf, als sich beide einen Weg durch die geparkten Autos und angeketteten Vespas hindurch suchten. Die Piazza war ein Parkplatz. Von den Kirchenstufen aus hatte man keinen schönen Blick. Der Kirche fehlten die Eleganz von Santo Spirito, der Charme von San Felice und
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