Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
Vom Netzwerk:
auf Deutsch. Seine Lippen waren warm und fest. Während seine andere Hand an meine Taille wanderte, sah ich über seine Schulter zum Krankenwagen hin.
    Dieter lächelte. Dann trat er in den hellen weißen Kreis und hob die Schranke.
    Il Corvo sammelte mich wieder auf. Ich ging am Straßenrand entlang wie ein Landstreicher. Ich wollte nicht einsteigen, aber es war zu kalt und zu weit, als dass ich zu Fuß gehen konnte. Schließlich rutschte ich auf den Sitz und rückte so weit wie möglich von ihm weg. Keiner von uns sagte ein Wort. Stattdessen sahen wir den Schneeflocken zu, die auf der Windschutzscheibe landeten, weggewischt wurden und wieder landeten. In der Nähe von San Frediano hielt Il Corvo in einer dunklen Ecke an, damit ich aussteigen, mein Fahrrad holen und es durch den Schnee zum Krankenhaus zurückschieben konnte, so als wäre nichts geschehen. Ich wollte gerade die Tür aufdrücken, als ich seine Hand auf meinem Arm spürte.
    »Nicht«, sagte ich. »Bitte.«
    Aber er nahm die Hand nicht weg. Die Scheinwerfer strahlten gegen eine Wand vor uns und warfen lange, unheimliche Schatten. Il Corvos Hand war bleich und schmal. Elegant wie die Hand eines Pianisten oder Dirigenten. Bevor ich ihn bremsen konnte, hatte er die kalten Fingerspitzen auf meine Lippen gelegt.
    »Danke«, sagte er.
    Ich schüttelte den Kopf. Er sollte nicht fragen, wie ich mich fühlte, und er sollte mich nicht weinen sehen. Ich griff nach dem Türgriff, aber er hielt mich zurück.
    »Caterina«, sagte er. »Meine Mutter – meine Mutter ist Jüdin.«

9. Kapitel
    Das Haus war riesig und stand tief im Schatten. Von Palliotis Standort auf der anderen Straßenseite sah es so aus, als würde es von den hohen, ausladenden Zedern erdrückt. Deren Äste strichen über das Giebeldach, betasteten die verwitterten Ziegel und die schwarzen Dachrinnen.
    Eigentlich hatte er nicht herkommen wollen, wenigstens nicht heute Abend. Er war auf dem Heimweg noch eingekehrt, hatte sein Glas an einen abgelegenen Tisch mitgenommen und das kleine rote Buch herausgezogen. Danach hatte er lange still dagesessen. Schließlich hatte er sein Handy gezückt, in der Polizeizentrale angerufen, seinen Rang angegeben und keine Ruhe gegeben, bis er bekommen hatte, was er suchte.
    In den städtischen Adressbüchern gab es keine Cammaccios. Dafür hatte es die Banducci gegeben. Nur eine einzige Familie. Natürlich konnte es sich um eine andere Familie handeln – vielleicht waren es ganz andere Banducci, die nur zufällig denselben Namen hatten. Aber das glaubte Pallioti nicht. Ihr Grundstück lag am Hügel unterhalb des Hauses, auf das er jetzt blickte. Seit 1940 hatte es der Familie gehört. Ob die Banducci es nun bis nach Ravenna geschafft hatten oder nicht, jedenfalls hatten sie überlebt, wenigstens einige von ihnen, in ihren geliehenen Kleidern, und waren später heimgekehrt. Sie waren nach dem April 1945 zurückgekehrt, um Anspruch auf die Ruinen ihres ehemaligen Heims zu erheben.
    Die Villa, die damals in Brand gesetzt worden und bis auf die Grundmauern abgebrannt war, hatte man, was vielleicht verständlich war, nicht wieder aufgebaut. Stattdessen hatten die Banducci die Wohnungsnot nach dem Krieg zu ihrem Vorteil genutzt. Laut der städtischen Unterlagen gab es in dem Haus, das sich jetzt auf dem Grundstück erhob – einem von Le Corbusier inspirierten Zeitzeugnis, das für Pallioti aussah wie eine zur Seite gekippte Schuhschachtel –, insgesamt drei Wohnungen. Eine oben, eine unten, dazu ein Penthouse, in dem die Banducci selbst wohnten. Wahrscheinlich, dachte Pallioti, der kleine Junge, den Caterina damals nicht hatte leiden können und der mittlerweile vermutlich ein Banker, Anwalt oder Geschäftsmann im Ruhestand war und selbst Kinder hatte, die wiederum Kinder hatten und mit diesen zusammen darauf warteten, dass er endlich starb – falls er nicht schon tot war –, damit sie endlich selbst in das Penthouse ziehen und die Küche renovieren und die Miete für die Wohnungen darunter erhöhen konnten.
    Oberhalb des Wohnhauses befand sich ein kleiner Park hinter einem verschlossenen Tor. Danach folgte die dunkle Villa, die Pallioti gesucht hatte – jenes Haus, das laut der Adresse in Caterinas kleinem rotem Buch früher der Familie Cammaccio gehört hatte. Inzwischen war es im Besitz der University of Wisconsin und beherbergte etwas, das sich »Renaissance Foundation« nannte. Die Hände tief in den Taschen vergraben, stand er auf der leeren Straße und dachte

Weitere Kostenlose Bücher