Die Toten der Villa Triste
Fuhre hatte ich die gestohlenen Mullbinden immer wieder benutzt. Ich hatte die Vorräte ein bisschen aufgestockt, aber zum Glück hatte ich in den letzten Wochen nichts mehr stehlen müssen. Mit dem Inhalt meines Rucksacks konnte ich leicht vier Männer in Invaliden verwandeln, darum hätte ich keine Schwierigkeiten, eine Familie mit zwei Kindern zu bandagieren.
Kurz nach fünf Uhr trat ich durch das Tor von San Frediano. Die Glocken läuteten gerade. Das riesige Haupttor des Klosters wirkte so undurchdringlich wie das eines Gefängnisses, aber als ich sanft dagegen drückte, stellte ich fest, dass es nicht abgeschlossen war, genau, wie Issa es versprochen hatte.
Ich huschte durch den Spalt, lehnte das Fahrrad an die Wand und zog die riesigen Holzflügel hinter mir zu. Dann drehte ich mich um und entdeckte den vertrauten Umriss des Krankenwagens, neben dem die große, hagere Gestalt Il Corvos stand. Ich hob grüßend die Hand, aber diesmal durchschnitt kein Lächeln seine so ernste Miene. Stattdessen schaute er mit schwarzen Augen verlegen an mir vorbei, während ich auf ihn zuging. Die Hände hatte er tief in den Taschen vergraben. Er schien die puderzuckrige Schneeschicht auf seinen Schultern nicht zu bemerken und auch nicht die schmelzenden Flocken, die als Tropfen von seiner hohen Stirn rannen.
»Il Corvo?« Ich sprach ihn an, weil ich mich fragte, ob er vielleicht krank war.
Endlich blickte er mich an. Dann nickte er zu einer Tür hin, die von dem Hinterhof abging, in dem wir standen. Aus den daneben aufgestapelten Fässern schloss ich, dass sich dahinter ein Lagerraum befinden musste. Ich sah ihn an und wartete darauf, dass er etwas sagte. Als er schwieg, drückte ich die Tür auf.
Die Glocken waren verstummt, nur ihr Echo hing noch in der Stille. Der Raum wurde nur von einer einzigen Lampe erhellt und war so dunkel, dass ich anfangs kaum etwas erkennen konnte. Dann sah ich sie. Ein älterer Mann von vielleicht fünfzig oder sechzig Jahren stand neben einer Frau, die seine Hand umklammerte. Zwei Kinder, die Knaben, saßen auf dem eisigen Boden, den Rücken an die Wand gelehnt. Neben ihnen entdeckte ich auf einem Stapel Säcke, auf dem sie offenbar geschlafen hatten, eine junge Frau, wahrscheinlich jünger als ich. In ihren Armen hielt sie ein kleines Mädchen von höchstens drei oder vier Jahren.
Ich starrte sie an. Dann trat ich zurück und zog die Tür von außen zu. Als ich mich umdrehte, stand Il Corvo bereits hinter mir.
»Das sind sechs!«, zischte ich. »Sechs! Drei Erwachsene! Und drei Kinder!«
Er nickte.
»Wir haben aber nur Platz für vier.« Ich schüttelte den Kopf, als könnte ich dadurch zwei von diesen Menschen wegzaubern. »Wir haben nur vier Pritschen!« Ich versuchte zu flüstern – ich wollte die arme Familie, die sicherlich mein entsetztes Gesicht gesehen hatte und jetzt mit gespitzten Ohren lauschte, nicht aus der Fassung bringen. »Wir können sie unmöglich alle mitnehmen«, sagte ich. »Das geht nicht …« Ich sah ihn an. Ich merkte, wie mir die Luft ausging und Tränen in meine Augen schossen.
»Wir müssen.« Il Corvos dunkle Augen blickten unerbittlich in meine. »Wir müssen.«
Wir legten den Alten, seine Frau und die beiden Jungen auf die Pritschen. Die junge Frau sollte zwischen ihnen auf dem Boden sitzen und das kleine Kind im Arm halten. Sie sagte, sie würde sich nicht trauen, es loszulassen, auf diese Weise könnte sie die Kleine am ehesten ruhig halten. Ich verband ihr den Kopf und der Kleinen den Arm. Dann wickelte ich beide in eine Decke. Ich versicherte ihnen, dass ihnen nichts passieren würde. Doch ich brauchte nur einmal in die Augen der Frau zu sehen, um zu erkennen, dass sie mir kein Wort glaubte. Trotzdem versuchte sie zu lächeln. Sie dankte mir. Der Mann wollte mir Geld in die Hand drücken. Ich steckte es in seine Jackentasche und erklärte ihm, dass er es in der Schweiz bestimmt brauchen würde. Dann schloss ich die Hecktüren.
Es ging kein Wind. Inzwischen fiel der Schnee senkrecht vom Himmel und trudelte gemächlich in die Scheinwerferkegel. Il Corvo sah mich nicht an, sondern blickte eisern auf die Straße, über die er noch langsamer fuhr als sonst. Ich glaube, er wollte möglichst spät an die Straßensperre kommen, er wollte irgendwie das vermeiden, was uns erwartete. Selbst wenn Dieter inzwischen meinen Namen kannte, selbst wenn er mir Zigaretten geschenkt und mich angelächelt hatte – wir hatten die Straßensperre noch kein einziges Mal
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