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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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passiert, ohne dass er oder der andere Soldat, der manchmal dort Dienst tat, die Türen des Krankenwagens geöffnet und mit der Taschenlampe hineingeleuchtet hatte. Ich spürte, wie mein Herz pochte. Ich spürte, wie meine Hände immer kälter wurden, bis sie wie tot auf der Dokumentenmappe und den vier Verlegungspapieren in meinem Schoß lagen.
    Die Straßensperre war beleuchtet. Die Schranke lag als schwarzer Balken in einem weißen Kreis. Dahinter fiel der Schnee wie ein dünner Vorhang vom Himmel. Wir wurden langsamer, ohne dass ich eine Menschenseele gesehen hätte. Eine fast alberne Fröhlichkeit überkam mich. Sie hatten den Posten vergessen. Er war nicht mehr besetzt. Die Schranke würde sich wie von Zauberhand heben, und wir würden einfach durchfahren, ohne auch nur anzuhalten. Dann sah ich die große Gestalt aus dem Schatten treten, in einer Hand die Taschenlampe. Il Corvo sah mich an. Wir hatten nie darüber gesprochen, doch ich wusste, dass er irgendwo eine Waffe hatte und dass er sie benutzen würde, falls er musste.
    Mit bebender Hand öffnete ich die Tür. Die Kälte schlug mir ins Gesicht wie eine Backpfeife. Schneeflocken trieben taumelnd vorbei. Erst als ich auf die Gestalt in dem Wintermantel und den dicken Stiefeln zuging und dabei unter den Schirm der Mütze blickte, erkannte ich, dass es Dieter war. Ich wusste nicht, ob ich erleichtert sein oder ob mir das noch mehr Angst machen sollte. Dieter kannte mich schon. Bestimmt würde er mir an der Nasenspitze ansehen, dass etwas nicht stimmte.
    »Signorina Caterina.«
    Sein Gesicht hellte sich erfreut auf, und er machte einen Schritt auf mich zu. Er nahm mit dem Handschuh meine nackte Hand und beugte sich darüber.
    »Ich dachte schon, Sie würden gar nicht mehr kommen«, sagte er. »In den vergangenen Wochen habe ich Sie gar nicht mehr gesehen.«
    »Da hatten Sie keinen Dienst.«
    »Stimmt.« Er lächelte. »Aber jetzt habe ich Dienst, und so sehen wir uns wieder. Ach ja! Ich habe etwas für Sie.« Er fasste in die Tasche seines Mantels und zog ein Päckchen Zigaretten heraus. »Bessere«, versprach er mir, »als beim letzten Mal. Ich habe sie eigens für Sie ausgesucht.«
    Ich hatte mir eine Geschichte zurechtgelegt und verzweifelt etwas zusammengesponnen, das sich halbwegs glaubhaft anhörte oder ihm wenigstens die Möglichkeit ließ, so zu tun, als glaubte er mir – dass diese Familie ausgebombt worden sei und wir nicht mehr genug Krankenwagen hätten, weshalb die Menschen auf dem Boden sitzen müssten. Dass das kleine Mädchen nicht im Kinderkrankenhaus sei, weil wir es nicht von seiner Mutter trennen wollten. Dass ich aus reiner Dummheit ihre Papiere verloren hatte.
    Ich sah auf die Mappe in meiner Hand und dann auf das Päckchen Zigaretten. Dieter würde mir nichts davon glauben. Niemand würde das glauben. Il Corvos Waffe blitzte in meinem Kopf auf, als sähe ich sie in diesem Augenblick vor mir. Falls die Hecktür des Krankenwagens geöffnet würde, würde er sie benutzen müssen. Danach würden wir vielleicht überleben. Vielleicht auch nicht. Alle oder auch nur einer von uns. Ich dachte an Issa und Carlo, die auf uns warteten. Und an die junge Frau, die bestimmt nicht älter war als ich und nur ein paar Meter von mir entfernt auf dem Boden des Lastwagens kauerte, ihr Kind in den Armen. Dann sah ich auf, lächelte und drückte Dieter die Mappe in die Hand.
    Während er sie aufschlug, ließ ich die Zigaretten in die Tasche meiner Uniform gleiten. Ich beugte mich bibbernd zu ihm hin. Er wollte gerade die Papiere herausholen und prüfen, als ich sagte: »Danke für die Zigaretten. Wie nett von Ihnen, an mich zu denken.«
    Dieter lächelte. Er sah mich kurz an, dann sagte er: »An Sie zu denken fällt mir nicht schwer, Signorina Caterina.«
    Seine Zunge schien meinen Namen auszukosten. Seine Augen waren blau, seine Wangen leicht gerötet. Der Kragen seines Wintermantels reichte ihm bis ans Kinn. Mir unbekannte Rangabzeichen strahlten silbern über der schweren grauen Wolle. Ich sah zu, wie sich meine Hand hob und die Rangabzeichen berührte, so als gehörte sie jemand anderem.
    »Ich denke auch oft an Sie«, murmelte ich. Dann ließ ich die Fingerspitzen über die warme, leicht stoppelige Haut an seinem Kinn wandern.
    Einen Moment lang schien er zu erstarren. Ich spürte mein Herz klopfen und seinen Atem auf meinem Gesicht. Dann schob er die Mappe in die Tasche, und seine behandschuhte Hand legte sich auf meine.
    »Wie schön« , flüsterte er

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