Die Toten der Villa Triste
das Kruzifix. Dann verhallten sie und sanken langsam auf den kalten Steinboden herab.
Als Pallioti wieder im Freien stand, fühlte er sich schlagartig todmüde. Er würde im Lupo Zuflucht suchen, dort etwas essen und danach nach Hause gehen. Die Piazza vor San Felice war früher vielleicht ein richtiger Platz gewesen, inzwischen war es nicht mehr als eine breitere Stelle auf dem Gehsteig. Ein paar Autos schossen vorbei, so nahe, dass er sie hätte berühren können. Es nieselte immer noch. Der kürzeste Weg hätte durch die Via Romano geführt, aber nach der dunklen Kirche waren ihm die Lichter zu grell, der Lärm zu laut. Er brachte nicht die Energie auf, sich zwischen den Menschen durchzudrängen oder sich an nasse Mauern zu drücken, um nicht auf die Fahrbahn geschubst zu werden. Also bog er in die kleine Gasse neben San Felice ein, froh, der modernen Welt zu entkommen und ins Mittelalter zurückkehren zu können.
Auf der einen Seite erhob sich eine Brandmauer. Aus ein paar kleinen Fenstern hoch oben im Haus gegenüber drang Licht und legte einen öligen Schimmer auf die nassen Pflastersteine. Pallioti ging mitten auf der Straße. Hier konnten keine Autos fahren – es hätte kaum ein Pferd durch diese Gasse gepasst –, und die Vespas waren schon von Weitem zu hören. Im Regen klangen sogar seine Schritte gedämpft. Er wanderte durch die Stille und trieb fast schlafwandlerisch dem Borgo Tegolaio entgegen. Dort musste er einen Wagen der Elektrizitätswerke vorbeilassen. Dann überquerte er die Fahrbahn und verschwand in der nächsten Gasse.
Anfangs hörte er es nur ganz leise. Wie ein Klacken. Dann steigerte es sich zu einem Rattern, als würde ein Kind mit einem Stock an der Wand entlangschaben. Pallioti blieb stehen und drehte sich um, doch hinter ihm war niemand. Offenbar war das Geräusch von oben gekommen. In der Stadt konnte die Nacht oft täuschen. Er ging weiter und hörte es gleich darauf wieder. Diesmal konnte es keinen Zweifel geben. Es war das scharfe Klicken von Absätzen – von Frauenschuhen auf dem Pflaster.
Die nächste Straße war belebt, doch die danach war wieder leer und wurde hauptsächlich von den Schaufenstern der Antiquitätenhändler und Polsterer erhellt. Auf halber Strecke bog Pallioti in die kleine Gasse ein, die ihn zum Lupo führen würde. Er konnte schon die kleine Piazza sehen. Der Widerschein der Restaurantbeleuchtung spiegelte sich in dem regennassen Mauerwerk der abgeschlossenen Kirche gegenüber. Er wurde schneller. Plötzlich merkte er, wie hungrig er war, und fragte sich, was Bernardo ihm wohl heute Abend auftischen und welchen Wein er dazu empfehlen würde. Eine Windbö kam auf, blies über die Dächer, fegte durch die Gasse und klatschte feine Regentröpfchen gegen seinen Hinterkopf.
Pallioti blieb stehen und drehte sich um.
Hinter ihm haftete die Dunkelheit an den hohen, fensterlosen Mauern. Verwirrt starrte er in die Schatten. Der schmale Lichtfleck am Eingang der Gasse waberte, und kurz meinte er, etwas oder jemanden zu sehen. Er blieb ganz still stehen. Wie von selbst wanderten seine Finger in die Manteltasche. Dort ertasteten sie den abgewetzten Einband des kleinen roten Notizbuchs. Er war sicher, dass sich die Dunkelheit in der Gasse an einer Stelle verdichtete. Dass sich irgendwo ein Schatten bewegte. Ohne dass er es wollte, begannen seine Lippen zu flüstern, einen Namen zu bilden. Dann, noch bevor er ihn aussprechen konnte, begann etwas laut und wild zu piepen.
Ein paar Tauben flogen auf. Sie machten einen solchen Lärm, dass Pallioti ein paar Sekunden brauchte, um zu begreifen, dass das infernalische Piepen aus seinem neuen Handy drang, und ein paar weitere Augenblicke, um sich ins Gedächtnis zu rufen, in welcher Tasche es steckte, es herauszuziehen und das verdammte Ding aufzuklappen. Gleich darauf hörte er Enzo Saenz’ Stimme.
»Können Sie noch einmal herkommen?«
»Jetzt?« Pallioti sah auf das hell erleuchtete Fenster des Lupo. Es war Sonntagabend, er hatte den ganzen Tag gearbeitet. Und er war halb verhungert. »Was gibt es denn?«, fragte er. »Können Sie mir das sagen?«
»Klar.« Enzo Saenz stieß ein Bellen aus, das vielleicht ein Lachen sein sollte. Unwillkürlich drehte Pallioti dem Fenster des Restaurants den Rücken zu. »Sie haben eine Leiche gefunden«, erklärte Enzo. Pallioti hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. »In einem gottverlassenen Kaff im Süden, in der Nähe von Brindisi.«
Pallioti merkte, wie er schneller
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