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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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an Krankenwagen. Und an eine verängstigte junge Krankenschwester mit einer Rotkreuzbinde am Arm. Sowie an einen großen, dünnen jungen Mann, der sich Il Corvo nannte und dessen Mutter Jüdin war.
    Waren sie ein Paar gewesen? Hatte sie ihm das Buch als Geschenk überlassen? Zur Aufbewahrung? Hatte er darum ihr kleines rotes Buch bekommen? Warum hatte er es all die Jahre in seinem Safe aufbewahrt?
    In der letzten Stunde war das Wetter umgeschlagen. Regen wehte von den Bergen herab, allerdings nicht so heftig wie an dem Tag, an dem Giovanni Trantemento gestorben war, sondern in dünnen, nadelstichfeinen Tropfen. Pallioti fragte sich, ob Trantemento – falls er recht hatte und Il Corvo in Wahrheit Giovanni Trantemento hieß – dieses Haus gekannt hatte. Ob er wohl, vielleicht als alter Mann, hergekommen war und hier gestanden hatte, um sich zu erinnern – genau dort, wo Pallioti jetzt stand?
    Der Eisenzaun zwischen der Straße und dem Garten vor dem Haus wurde von einer kränklichen Lorbeerhecke verstärkt. Durch die toten und laublosen Lücken konnte Pallioti den verblassten Verputz an der Fassade erkennen. Am Ende der kurzen, gewundenen Einfahrt erhob sich eine Haustür mit zwei Stufen und dunklen Lampen. Links und rechts reihten sich verschlossene Fensterläden. Wenn er etwas hügelabwärts ging, konnte er gerade noch die Steinbrüstung einer Terrasse erkennen, die sich auf der Rückseite des Hauses entlangzuziehen schien und von der aus man einen freien Blick über die Stadt hatte. Im ersten Stock standen die Fensterläden offen. Die Scheiben leuchteten hinter den Zedern hervor. Der Wind fegte in die Äste und brachte sie zum Schwanken, bis es fast so aussah, als würden ihm die Fenster zublinzeln.
    Auf der Straße rührte sich nichts. Die Straßenlaternen brannten. In einem Viertel wie diesem war sonntags jeder zu Hause, der überhaupt noch nach Hause kam. Hinter den zugezogenen Vorhängen im Mietshaus der Banducci glühten Lichter. Zwei Smarts, ein Fiat und ein Alfa standen säuberlich auf ihren gekennzeichneten Stellplätzen. Drei Fahrräder waren an ihrem Ständer festgeschlossen. Auf dem Flachdach zeichnete sich das Eisengeländer der Dachterrasse in silbernem Zickzack gegen den dunkler werdenden Himmel ab.
    Das Mietshaus der Banducci war weder schön noch romantisch, doch hinter den Panoramascheiben stritten Kinder, sie gingen zur Schule, kamen nach Hause, aßen zu Abend und sahen fern. Eltern stritten, gingen zur Arbeit, kamen nach Hause, machten Abendessen und hatten wütenden oder erfüllenden oder gelangweilten Sex. Es wurde Fußball geschaut. Zeitungen wurden gelesen. Hunde wurden ausgeführt. Kurz gesagt, das Leben ging seinen Gang. Hier lebten Menschen. Anders als in der Villa der Cammaccios, wo niemand mehr wohnte.
    Pallioti trat vom Bordstein und überquerte die menschenleere Straße. Er spähte durch den Zaun. Der Garten stieg neben dem Haus steil an. Am Fuß einer weiteren riesigen Zeder mit ausladenden Ästen kauerte, so wie es aussah, eine Garage. Die Straßenlaterne leuchtete immerhin so hell, dass er eine neue Asphaltschürze erkennen konnte, die man um die Garage herum gegossen hatte, um Stellplätze für mehrere Autos zu schaffen, sowie einen überwucherten, unter einer Winterdecke liegenden Rasenfleck. Die Zedern erbebten. Sie kratzten über den Verputz und klopften gegen die blinden Scheiben.
    Das Tor war verschlossen, aber nicht mit einer Kette gesichert. Es gab kein Vorhängeschloss. Er musste sich beherrschen, um nicht die Hand aus der warmen Tasche zu ziehen und nach dem nasskalten Riegel zu greifen. Festzustellen, ob er ihn anheben konnte, um ihn dann, falls er sich bewegen ließ, zurückzuschieben und in den Garten zu treten, wie Caterina es Tausende Male getan haben musste, wenn sie erschöpft von ihrer Arbeit im Krankenhaus heimkam. Oder unterkühlt und übermüdet, aber zu verängstigt – oder erleichtert –, um Schlaf zu finden, nachdem der Krankenwagen sie von Fiesole zurückgebracht und abgesetzt hatte, damit sie wieder, mit ihrer Uniform getarnt, in der Stadt untertauchen konnte. Er fragte sich, wie sie wohl an jenem Abend nach Hause gekommen war, im Schnee – und ob sie dabei Il Corvos Finger auf ihren Lippen gespürt hatte. Ob ihr seine Absolution, falls man es so nennen wollte, für das, was sie getan, wozu sie sich gezwungen hatte, in den Ohren geklungen hatte.
    Die Lichter eines vorbeifahrenden Autos bohrten sich wie Suchscheinwerfer durchs Dunkel. Einen Augenblick

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