Die Toten der Villa Triste
über dem Meer hing, ging die Sonne auf. Pallioti konnte sie nicht sehen, während sie die Stadt umfuhren und dann auf eine Straße abbogen, die so gerade verlief, dass noch die Römer sie gebaut haben mussten. Der Regen kam in schweren Güssen, er wehte seitlich heran und ließ die Landschaft verschwinden, die, soweit Pallioti das erkennen konnte, hauptsächlich flach und grün und struppig war. Ein- oder zweimal sah er von der Straße zurückgesetzt kleine Häuser stehen. Sobald sie von der Schnellstraße abbogen, ging es deutlich langsamer voran. Noch langsamer wurden sie, als sie durch eine Kleinstadt kurvten, die im Grunde aus einem Haufen weiß gekalkter Mauern an einem Hügel bestand. Auf der Piazza erhob sich eine Kirche. Ein paar durchnässte Marktstände scharten sich mit durchhängenden, wassertriefenden roten Planen um den Brunnen.
»Es sieht nicht überall so aus.« Cesare D’Aletto sah nach hinten und lächelte. »Brindisi ist eigentlich ganz hübsch«, sagte er. »Zum Teil wenigstens.«
Pallioti war nie dort gewesen und hatte daher keine Ahnung, ob das stimmte oder ob der junge Mann einfach das Beste aus seinem neuen Wohnort zu machen versuchte. Vielleicht war die Versetzung von Turin hierher eine Beförderung gewesen, auf jeden Fall musste es ein Kulturschock sein. Ganz zu schweigen von dem geografischen Schock, falls es so etwas gab. Der nächste schneebedeckte Gipfel war von hier aus der Ätna. Selbst im Regen war es hier deutlich wärmer als der frühe Herbstmorgen, aus dem sie in Florenz gestartet waren. Im Sommer war der ganze Landstrich eine einzige Bratpfanne. Fast als würde man in der Wüste wohnen. Pallioti wusste, dass der Mezzogiorno in den letzten Jahren bei den Engländern modern geworden war, die endlich der Toskana überdrüssig geworden waren, vielleicht sogar bei ein paar Italienern, aber er für seinen Teil konnte sich nicht vorstellen, hier zu leben. Was sollte er hier anfangen? Und wo sollte er es anfangen?
»Stammt Roberto Roblino von hier?«, fragte er.
Cesare D’Aletto drehte sich wieder kurz um und schüttelte den Kopf.
»Das wissen wir nicht«, sagte er.
»Verzeihung?«
»Soweit wir seine Lebensgeschichte kennen, und das tun wir zurzeit vor allem durch seine Haushälterin, kam er vor fünfzig Jahren hierher. Aus Spanien.«
»Er ist Spanier?«
Pallioti hatte von vielen Italienern gehört, die nach Spanien gegangen waren und dort im Bürgerkrieg gekämpft hatten, aber dass dieser Gefallen erwidert worden war, hatte er noch nicht gehört.
»Hier steht«, Enzo sah in die Akte, die er aus seinem Koffer gezogen hatte, »dass er italienischer Staatsbürger war.«
»O ja«, bestätigte D’Aletto. »Das ist er. Ohne Frage. Wir haben gestern seinen Safe öffnen lassen, und wir haben seinen Pass. Aber wir haben keine Geburtsurkunde gefunden, wenigstens nicht in seinem Safe. Die Haushälterin und ihr Mann haben ihn in den Fünfzigerjahren in Madrid kennengelernt. Er war damals im Import-Export tätig. Von Dachziegeln, Baumaterialien, solchen Sachen. Als er wieder nach Italien zog, nahm er seine Firma und das Paar mit. Und er hatte bei den Partisanen gekämpft. Er ist also Italiener. Wir wissen nur nicht, wo er geboren wurde. Offenbar gingen die Unterlagen während des Krieges verloren. Damals wurden viele Akten vernichtet.«
Der Fahrer bremste unvermittelt für zwei alte Damen, die vom Bürgersteig getreten waren und jetzt gemächlich die Straße überquerten, die Köpfe gegen den Regen gesenkt.
»Keine Familie?«
D’Aletto schüttelte den Kopf.
»Laut seiner Haushälterin nicht. In Spanien hatte er wohl eine Frau oder eher Freundin. Sie kam mit ihm hierher, blieb ein paar Jahre da und verschwand dann wieder. Davon abgesehen niemanden. In seinem Testament ist auch nichts vermerkt. Sein Erbe fällt an die Haushälterin und ihren Mann. Hauptsächlich an die Haushälterin.«
»Die ihn auch gefunden hat?«
Cesare nickte, während der Wagen durch mehrere Serpentinen bergab fuhr.
»Maria Grazia Franca. Sie und ihre Familie leben hier im Ort.« Er deutete auf die Häuser, die eben hinter ihnen verschwanden. »Sie kommt an fünf Tagen die Woche. Vor ewigen Zeiten haben sie die italienische Staatsbürgerschaft angenommen. Ihr Mann kümmert sich um den Garten. Ich habe mit dem Konsulat in Madrid gesprochen«, ergänzte er. »Aber Sie wissen selbst, wie so was läuft.«
Pallioti wusste es nicht, aber er konnte es sich vorstellen. Inzwischen waren sie am Fuß des Hügels
Weitere Kostenlose Bücher