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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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splitterndes Glas.
    Das war kein Gespenst. Kein wandernder Geist, der aus dem zwanzigsten Jahrhundert ins einundzwanzigste geschlüpft war und dessen Stimme wie ein Echo aus einer fernen, vom Krieg überschatteten Vergangenheit heranwehte. Falls diese Stimme ein Echo trug, so wehte es aus dem Mittelwesten der Vereinigten Staaten heran. Er kannte diese flachen Vokale. Er hatte ein Auslandssemester an der University of Chicago verbracht.
    Das musste Dottoressa Eleanor Sachs sein, die sich nicht abschütteln lassen wollte.
    Pallioti spürte, wie seine Schultern nach unten sackten. Ein kleines, erleichtertes Aufatmen wurde sofort von Ärger überschwemmt. Er kam sich erst dumm vor und wurde dann wütend – es war ihm peinlich, dass er sich wie ein Idiot aufgeführt und Gespenster gesehen hatte. Also streckte er die Schultern durch und brachte alles auf, was ihm an Würde geblieben war.
    »Dottoressa«, sagte er. »Wenn Sie mit jemandem sprechen wollen, müssen Sie sich an den Amtsweg halten.« Und dann hörte er sich wie einen kleinkarierten Bürohengst sagen: »Es wird Ihnen nichts bringen, meinen Sekretär zu belästigen. Bitte wenden Sie sich an die Pressestelle.« Damit machte er auf dem Absatz kehrt.
    »Nein!«, sagte sie. »Nein! Sie verstehen nicht.«
    Er drehte sich wieder um. »O doch«, widersprach er. »Ich verstehe durchaus.« Zufrieden, endlich eine Zielscheibe für seinen Ärger gefunden zu haben, meinte er: »Nur zu gut. Sie sind diejenige, die nicht versteht. Ich gebe keine Interviews. Und wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden …«
    »Warten Sie! Warten Sie! Darum geht es doch gar nicht. Warten Sie, ich habe so lange versucht …« Sie packte ihn am Arm, ihre Stimme wurde immer höher und schriller, und ihre kleine weiße Hand krallte sich wie eine Klaue in den schwarzen Ärmel seines Mantels. »Bitte!«
    Auf der Piazza waren die ersten Passanten stehen geblieben und sahen zu ihnen her. Aus dem Nebel schälte sich der Blumenhändler, der über das feuchte Pflaster auf sie zugeeilt kam und mit seinen krummen Beinen aussah wie eine Aufziehpuppe.
    »Dottore!«, rief er. »Dottore, ist alles in Ordnung?«
    »Es geht um Giovanni Trantemento.« Die Frau senkte die Stimme zu einem leisen Zischen.
    »Inwiefern?«
    Sie war klein und dunkel und trug die glänzenden Haare kurz geschnitten wie ein Junge.
    »Sagen Sie mir nur …« Die Worte purzelten gehetzt und wie gehaucht aus ihrem Mund. »Bitte sagen Sie mir nur eines. Hatte er den Mund voll Salz?«

    »Also, Dottoressa Sachs«, Pallioti hatte richtig vermutet, sie war es tatsächlich, »was genau kann ich für Sie tun?«
    Im gedämpften Licht des Cafés, in das er sie gezogen hatte, sah Dr. Eleanor Sachs, nun ohne ihr sphärenhaftes Cape aus Nebelschwaden, weniger ätherisch als schlicht durchfroren aus.
    Pallioti beobachtete sie und kam zu dem Schluss, dass Eleanor Sachs, nachdem sie ihn endlich in die Ecke getrieben und seine Neugier geweckt hatte, nach dem Sprung ins kalte Wasser den Boden unter den Füßen verloren hatte. Er hatte keine besondere Lust, ihr zu Hilfe zu kommen, sondern lehnte sich in seinem Stuhl zurück und wartete ab, wie sie sich aus ihrer misslichen Lage freistrampeln würde. Wäre er nicht so verstimmt gewesen – er mochte es genauso wenig wie jeder andere, verfolgt und in die Ecke getrieben zu werden –, hätte er vielleicht sogar gelächelt.
    Der Tisch, den er ausgewählt hatte, stand weit hinten im Gastraum in einer dunklen Ecke, die wie geschaffen schien für ein stilles Stelldichein, einen zischelnden Zwist unter Liebenden oder für zwei Menschen, die nicht zusammen gesehen werden wollten. Nachdem er dem Blumenhändler erklärt hatte, dass es sich um eine Verwechslung im Nebel handele, dass es ihm wunderbar ginge und er lediglich eine alte Freundin nicht erkannt habe, hatte er die Frau, die ihm jetzt gegenübersaß, so hastig wie möglich von der Piazza gezogen – nicht weil er besondere Lust hatte, etwas mit ihr zu trinken, sondern weil er bis vor wenigen Minuten noch der Illusion angehangen hatte, dass die Polizei einige der Fakten um Giovanni Trantementos Tod geheim gehalten hatte.
    Er legte den Kopf leicht schief und beobachtete sie. Es gab nur wenige Möglichkeiten, wie sie an diese Information gekommen sein konnte, und er gedachte in der nächsten halben Stunde herauszufinden, welche davon zutraf. In der dramatischsten Variante hatte sie den alten Mann persönlich umgebracht – trotzdem machte er sich keine Sorgen,

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