Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
er die Cola-Dose fallen lassen. Er fuhr herum. Am Fenster am anderen Ende des Raums saß Ursula. Vor ihr auf dem Tisch standen zwei Bierflaschen. Die eine leer, die andere halb voll.
«Was machst du denn hier?», fragte Sebastian und ging zu ihr hinüber.
«Ich konnte nicht schlafen. Und du?»
«Ich habe geträumt …»
«Ein Albtraum?»
«Ja.»
Sebastian zog den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches heraus und setzte sich zu ihr. Er öffnete die Cola-Dose und nahm einen Schluck. Ursula musterte ihn forschend.
«So schlimm, dass du aufstehen musstest?»
«Ja.»
«Wovon handelte der Traum?»
«Warum kannst du nicht schlafen?»
«Ich habe zuerst gefragt.»
«Warum kannst du nicht schlafen?», wiederholte Sebastian in exakt dem gleichen Tonfall.
Ursula sah ihn an und hob die Bierflasche an die Lippen. Nächtliche Gespräche am Küchentisch. Davon hatten sie schon einige geführt. Damals. Eigentlich sehr schöne, wenn sie sich richtig erinnerte. Vielleicht sollte sie es loswerden, «mit jemandem reden», wie es so schön hieß. Und Sebastian war jemand. Er kannte sie, ohne ihr zu nahe zu stehen. Jedenfalls nicht mehr. Außerdem würde er sachlich reagieren und das Ganze aus einer angenehmen Distanz betrachten. Sich weder sentimental tröstend noch aufgesetzt positiv verhalten. Es könnte funktionieren. Unter einer Bedingung.
«Du darfst es niemandem erzählen.»
«Geheimnisse sind mein Spezialgebiet.»
Ursula nickte. Da war etwas dran. Als sie ein Paar waren, hatte er mit ihrer Schwester geschlafen. Und mit Gott weiß wie vielen anderen Frauen. Ursula hatte lange nichts geahnt. Und bei ihrem letzten Fall hatte Edward Hinde sie beide dazu gezwungen, sich dieser Vergangenheit wieder zu erinnern. Zu ihrem Erstaunen hatte Ursula bemerkt, dass der Zorn, den sie so viele Jahre lang gehegt hatte, mehr oder weniger verraucht und einem anderen Gefühl gewichen war, das sie beinahe als Mitleid bezeichnen konnte. Der Mann, der sie einst betrogen hatte, existierte nicht mehr. Und der Sebastian, der wieder zu ihnen ins Team zurückgekommen war, war ein anderer. Noch immer brillant, noch immer egoistisch, nervig, über die Maßen selbstbewusst und in jeglicher Hinsicht unmöglich. Aber es schien, als müsse er sich ein wenig mehr anstrengen, um diese Eigenschaften aufrechtzuerhalten, die vorher ganz selbstverständlich gewirkt hatten. Eben am Getränkekühlschrank, als er sich unbeachtet gefühlt hatte, barfuß, in Boxershorts und T-Shirt, hatte er einsam ausgesehen. Das war das erste Wort, das ihr bei seinem Anblick eingefallen war.
Einsam.
Und traurig oder zumindest betrübt.
Sie wusste nicht, warum. Der Hinde-Fall und Sebastians persönliche Verbindungen zu den Opfern hatten an ihm gezehrt, aber der alte Sebastian hätte sich schnell wieder aufgerappelt. Dieser jedoch nicht. Nicht mehr. Warum, wusste sie nicht. Was er gesagt hatte, stimmte jedenfalls. Sebastian konnte Geheimnisse gut bewahren. Zumindest seine eigenen. Sie hoffte, es würde auch für die anderer gelten. Für ihre.
«Micke hat mich verlassen.»
Sebastian nickte vor sich hin. Er hatte geahnt, dass es etwas mit ihrer Familie zu tun hatte, aber eher vermutet, es ginge um Bella. Was in ihrer Beziehung zu Micke passierte, würde Ursula nicht so sehr treffen, hatte Sebastian gedacht. Micke war Quartalssäufer und arbeitete zu viel in einem Beruf, der Ursula noch nie interessiert hatte. Sie hatten eine Tochter, davon abgesehen aber nicht viel gemein. Noch nie gehabt, wenn Sebastian ihre Beziehung richtig einschätzte. Diese Ehe war ihm ein Rätsel.
«Und darüber bist du tatsächlich traurig?»
Ursula sah ihn an. Sie wusste nicht genau, mit welcher Antwort sie gerechnet hatte, mit dieser jedenfalls nicht.
«Mein Mann verlässt mich nach fünfundzwanzig Ehejahren wegen einer anderen. Ja, das fühlt sich …»
«Ich hätte nicht gedacht, dass du ihn liebst», unterbrach Sebastian sie und lehnte sich mit seiner Cola in der Hand zurück. Ursula sah ein, dass sie die Eigenschaften «sachlich» und «angenehme Distanz» um «brutale Direktheit» ergänzen musste.
«Ich wollte nicht verlassen werden», erwiderte sie ehrlich, ohne auf seine Bemerkung einzugehen.
«Du hättest lieber ihn verlassen, darum geht es doch?» Sebastian betrachtete sie prüfend im Halbdunkeln. «Dein eigentliches Problem ist nicht, dass ihr euch trennt, sondern dass er dich verlässt. Du wolltest entscheiden.»
«Ach, weißt du was, vergiss es einfach», meinte Ursula seufzend
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