Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
Aufzug auf dem Weg zu seiner Wohnung und hoffte, dass er sich noch nicht schlafen gelegt hatte. Das Erste, was sie sah, als sie die Aufzugtür öffnete, war der Koffer. Ihr kleiner schwarzer Koffer. Warum stand er im Hausflur? Mit einer Plastiktüte daneben. Sie ging darauf zu und warf einen Blick in die Tüte. Ihre Sachen. Hatte er etwa ihre Sachen vor die Tür gestellt? Jetzt reichte es aber! Sie nahm ihren Schlüssel aus der Tasche.
Merkwürdig, er schien nicht zu passen.
Sie untersuchte den Schlüsselbund. Doch, es war der richtige Schlüssel. Also versuchte sie es erneut, mit demselben kläglichen Ergebnis. Der Schlüssel ließ sich nicht einmal ins Schloss stecken.
Im Treppenhaus erlosch das Licht. Ellinor ging zu dem kleinen, orange leuchtenden Schalter und knipste es wieder an. Dann ging sie zur Tür zurück und klingelte. Niemand öffnete. Sie klingelte erneut, diesmal länger. Aggressiv. Nicht ein Laut drang aus der Wohnung. Sie beugte sich hinab und öffnete den Briefschlitz. Drinnen schien es vollkommen still zu sein. Sie läutete wieder, lehnte sich mit dem ganzen Körper gegen den Klingelknopf. Keine Reaktion.
Nun wurde sie richtig wütend. So konnte man sie nicht behandeln! Sie sah über vieles hinweg, weil sie ihn liebte, aber selbst ihre Toleranz hatte Grenzen, die er nun weit überschritten hatte. Sie holte ihr Handy aus der Tasche und scrollte in ihrem Adressbuch zu «Liebling». Dann rief sie an. Dabei öffnete sie den Briefschlitz erneut, während sie dem Tuten lauschte. In der Wohnung war kein Klingeln zu hören. Ellinor legte auf und stöhnte. Was sollte sie jetzt tun? Wo war Sebastian, und warum kam sie nicht hinein? Noch einmal blickte sie auf ihre Sachen und entdeckte einen weißen Umschlag, der an der Seite ihres Koffers befestigt war. Sie nahm ihn und riss ihn gereizt auf.
Das Licht erlosch erneut.
Nachdem sie es wieder eingeschaltet hatte, holte sie das einzige Blatt heraus, das in dem Umschlag steckte, und faltete es auseinander.
Was ich heute gesagt habe, meine ich ernst. Du musst ausziehen.
Das Schloss wurde ausgetauscht. Ich bin nicht zu Hause und werde für längere Zeit wegbleiben, es hat also keinen Zweck, dass du hier stehst und klingelst. Ich werde nicht ans Telefon gehen, wenn du anrufst. Du hättest nie einziehen sollen. Es war mein Fehler, bitte entschuldige.
Sebastian
Ellinor las den kurzen Text erneut. Und noch einmal. Dann knüllte sie das Blatt zusammen und warf es auf den Boden. Vor ihren Augen tanzten kleine schwarze Punkte. Sie stieß einen Schrei aus wie ein verletztes Tier. Er hallte im Treppenhaus wider. Dann beruhigte sie sich. Holte tief Luft und hatte sich wieder unter Kontrolle.
So viele Gefühle auf einmal. Wut, Schock, Angst. Jetzt musste sie sich zwingen, klar zu denken.
Er konnte sie nicht hinauswerfen.
Er durfte sie nicht hinauswerfen.
Er hatte sie nicht hinausgeworfen.
Noch einmal nahm sie den Schlüssel und versuchte, ihn ins Schloss zu stecken. Er passte nicht. Aber das musste er! Sie wohnte hier! Sie probierte es abermals, mit demselben Ergebnis. Dann begann sie, mit dem Schlüssel auf das Schloss einzuhacken. Das Licht erlosch erneut, doch sie bemerkte es kaum.
Sie musste hinein. Sie musste nach Hause!
Der Schlüssel rutschte ab, und sie spürte, wie der Metallbeschlag der Tür eine Wunde in ihren Daumen riss. Der Schlüsselbund fiel zu Boden, und sie bückte sich, um ihn zu finden. Tastete mit den Händen über den Steinboden, fand ihn aber nicht. Kniete sich hin und fuhr mit der flachen Hand über die Fliesen. Fegte dabei versehentlich die Schlüssel gegen die Tür des Nachbarn. Doch sie schaffte es nicht mehr, aufzustehen und hinterherzugehen. Jetzt schaffte sie gar nichts mehr. Sie sank auf dem Boden zusammen und ließ ihren Tränen freien Lauf.
Am Ende wusste sie nicht, wie lange sie dort in der Dunkelheit gesessen und geweint hatte, aber irgendwann versiegten die Tränen. Als wären sie abgestellt worden. Als hätte sie fertig geweint. Nichts wurde davon besser, dass sie hier saß. Beherrscht stand sie auf und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab. Dann schaltete sie erneut das Licht an und zog schniefend die Nase hoch. Tat die paar Schritte zur Nachbarstür, bückte sich und nahm ihren Schlüsselbund, steckte ihn in die Tasche, ging zurück, nahm den Koffer in die eine Hand und die Plastiktüte in die andere. Jetzt musste sie wieder in die alte Wohnung in der Västmannagatan und das Ganze überdenken. Eigentlich, so
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