Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
eigentlich näherstehen sollte, sondern ihm. Er, der sie vor langer Zeit einmal so sehr verletzt hatte. Er, der sie um Vergebung gebeten, sie aber nie erhalten hatte. Vielleicht nie erhalten würde. Und das war auch verständlich. Angesichts ihrer gemeinsamen Geschichte konnte ein bisschen Ehrlichkeit seinerseits nicht schaden.
Dennoch widerstrebte es ihm. Er wollte es nicht. So einfach war das. Er wollte nicht.
Blieb nur noch eine Lüge. Aber das war in diesem Moment auch keine Alternative.
«Lass uns ein anderes Mal darüber sprechen», sagte er mit einem undramatischen Achselzucken und hoffte, dass sie sich damit zufriedengeben würde.
Und so war es.
Sobald es hell wurde, ging Sebastian spazieren. Sein Orientierungssinn war nicht besonders ausgeprägt, also beschloss er, dem Bach oder Fluss, oder wie auch immer man diesen Wasserlauf korrekt nannte, zu folgen. Der Regen machte eine Pause, aber der Nebel lag noch über dem aufgeweichten Boden, und die dichte Wolkendecke hing tief am Himmel. Der Weg bestand aus matschigem Lehm voller Wurzeln und Unebenheiten, und er musste darauf achten, wohin er seine Füße setzte, um nicht zu stolpern.
Ursula und er hatten noch einige Minuten im Restaurant gesessen, waren dann aber auf ihre Zimmer gegangen. Sie hatte ihn an sein Versprechen erinnert, nichts zu erzählen, und er hatte es ihr erneut versichert.
Wieder in seinem Zimmer angekommen, hatte er sich an den Klapptisch am Fenster gesetzt und das Handy eingeschaltet. Acht Nachrichten auf der Mailbox. Alle von Ellinor. Mal klang sie nachdenklich, mal schrie sie und drohte ihm mehr oder weniger unverhohlen, mal bat sie um Verzeihung und versprach, alles wiedergutzumachen, wenn er sich nur meldete. In der letzten Nachricht sagte sie mit ungewohnt ruhiger Stimme, sie habe verstanden und werde sich um alles Weitere kümmern. Sebastian schaltete das Handy wieder aus. Sicher hatte er diese Sache nicht unbedingt glänzend gelöst, aber darum musste er sich kümmern, sobald er wieder in Stockholm war. Jetzt hatte er andere, wichtigere Dinge zu bedenken.
Also hatte er dort gesessen, allein in seinem Zimmer, auf dem relativ unbequemen Holzstuhl, und versucht, einen Plan auszuarbeiten.
Zu einem Entschluss zu kommen.
Doch es funktionierte nicht. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Der Traum hatte sich wie eine Haut über sein Bewusstsein gelegt. Die Erinnerung nahm beinahe physische Formen an. Immer wieder ertappte er sich dabei, die rechte Faust zusammenzuballen. Er stand auf. Lief im Zimmer hin und her, doch je mehr Zeit verging, desto rastloser wurde er. Er musste hier raus. Musste entkommen.
Bewegung, frische Luft, Natur, Einsamkeit, ohne gefangen zu sein – vielleicht würde ihm das zu neuer Konzentration verhelfen.
Jetzt ging er an dem rauschenden Wasserlauf entlang, den Blick auf den Fluss gerichtet. Dann machte der Weg eine scharfe Biegung nach links über eine Art Hängebrücke aus Metall mit doppelten Holzplanken. Auf beiden Seiten verlief ein Geländer aus Drahtseil. Sebastian betrat die Brücke und stellte sich in die Mitte.
Ein kleiner Vogel hüpfte im flachen Wasser am Ufer umher. Sebastian folgte den ruckhaften, nervösen Bewegungen mit dem Blick und ließ seine Gedanken wandern.
Von seinem Traum zum Gespräch mit Ursula und schließlich zu Vanja. Immer wieder zu Vanja.
Alles hing zusammen.
Sie würde ihn verlassen. Natürlich konnte er sie besuchen. Aber wie oft durfte er sich das erlauben, ohne dass es merkwürdig erschien? Einmal? Zweimal? Sie konnten telefonieren und sich E-Mails schreiben, er konnte sich sogar dieses Skype zulegen, wenn es nötig wäre. Doch all das waren eigentlich Hilfsmittel, um eine Beziehung aufrechtzuerhalten, die man bereits hatte. Nicht, um etwas Neues anzufangen. Es wäre merkwürdig, über einen Bildschirm mit ihr zu kommunizieren, wenn sie sich im wahren Leben nicht austauschten. In fünf Jahren würde das vielleicht funktionieren. Wenn sie Freunde wären. Wenn sie ihn in ihrem Leben schätzte. Als der, der er war, und nicht nur, weil er ihr Leben gerettet hatte.
Doch so war es bisher nicht.
Noch nicht.
Aber nun hatte er eine Chance. Jetzt konnte er sich ihr annähern und etwas Dauerhaftes und Lebendiges schaffen. Aber nur, wenn sie hier war. Bei ihm.
Offenbar hatte der kleine Vogel das, womit er beschäftigt gewesen war, beendet, denn er flog knapp über dem Boden zwischen die Bäume am Ufer und verschwand. Sebastian richtete sich auf.
Eigentlich lag es auf
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