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Die toten Frauen von Juárez

Die toten Frauen von Juárez

Titel: Die toten Frauen von Juárez Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hawken
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Muskeln, die vorher nicht da gewesen waren, freute sich jedoch darüber. Er fragte sich, ob es das gleiche Gefühl war wie damals, als ihm alles scheißegal gewesen war; aber das war so lange her, dass er sich nicht mehr erinnern konnte.

ACHT
    Im Viertel herrschte Stille, als Kelly zurückkehrte. Irgendwo hörte er ein Radio
norteño
spielen. Kelly kannte den Song: »Un Rinconcito En El Cielo« von Ramón Ayala y sus Bravos Del Norte. Übersetzt lautete der Songtitel »Eine kleine Ecke am Himmel«. Das Lied handelte von einem Mann, der von seiner Frau getrennt war, und da sie nicht zusammen sein konnten, betrachteten sie dieselbe Stelle am Himmel und waren im Geiste vereint.
    Kelly fand das Lied unsäglich kitschig, aber Ayala und seine Band waren in Mexiko und den Staaten sehr angesagt. Sie produzierten ihre Schallplatten drüben und lebten auch dort. Mexikaner kauften ihre eigene Musik von amerikanischen Plattenfirmen zurück. Auch das verstand Kelly nicht.
    Er stieg die Stufen zu seinem Apartment hinauf und hörte die Stimme von Eliseo Robles, Ayalas Sänger auf dem Höhepunkt des Ruhms der Band, über ein beschwingtes Akkordeon hinweg:
    Un rinconcito en el cielo
    Juntos, unidos los dos
    Y cuando caiga la noche
    Te daré mi amor …
    Das Frühstück fiel so üppig aus, als hätte Kelly am Vorabend geboxt. Er hatte vergessen, welchen Heißhunger er nach einem Dauerlauf verspürte. Er aß, bis er das Loch in seinem Magen gestopft hatte, und spülte sogar gleich anschließend das Geschirr.
    Er hatte immer noch Energie, obwohl er eigentlich müde sein sollte. Er ging in dem Apartment auf und ab und begriff, wie wenig er eigentlich unternehmen konnte; zum Fernsehen war er zu aufgekratzt, und Musik hatte er nicht mehr gehört, seit sein CD-Player kaputtgegangen war.
    Am Ende umwickelte er die Hände, ging auf den hinteren Balkon hinausund trainierte mit dem Sandsack. Die ersten Schläge blieben verhalten; gerade fest genug, dass er mit den Fäusten das Leder streifte und die Festigkeit dahinter spürte.
    Kelly legte mehr Wert auf Form als auf Wucht. Ein echter Treffer kam aus der Hüfte, der Schwung des ganzen Körpers lag hinter der Schulter, um ein Moment zu erzeugen, das die Schlaghand allein nicht besaß. Ein guter Treffer erzeugte auf der Haut des Gegners einen Ton wie eine tiefe, hallende Glocke. Wenn Kelly für Ortíz in den Ring stieg, Prügel einsteckte und blutete, spürte er nie die Magie eines gutausgeführten Schwingers, aber hier konnte er sie erleben, wenn er seine Muskeln dazu brachte, dass sie sich erinnerten.
    Er schwitzte heftig und atmete schwer, genau wie bei seinem Dauerlauf. Kelly stellte fest, dass er bei jedem Hieb die Luft anhielt, und musste sich ermahnen, hinterher wieder zu atmen. Wenn man nicht atmete, holte sich der Körper den Sauerstoff aus den Muskeln. Ohne die richtige Atemtechnik kam einem Boxer jegliche Kraft abhanden, sogar eine Ohnmacht war möglich. Kelly wischte sich mit dem Unterarm die Stirn ab.
    Er wollte sich nicht verausgaben, aber es tat ihm gut, genauso, wie es ihm guttat, wenn er rausging und lief, obwohl seine Lunge dem nicht mehr gewachsen war und er nicht mehr so viel Kraft in den Beinen hatte wie früher. Er bearbeitete den schweren Sandsack, bis seine Oberarme so schwer wurden, dass seinen Schlägen die Treffsicherheit fehlte, dann hörte er auf.
    Über die Flachdächer hinweg sah er eine Reihe Lastwagen aus der
GM- maquiladora
kommen. Unten, am Sockel von Kellys Gebäude, schlich eine Katze durch das hohe Gras und stöberte auf der Suche nach einer Maus oder Eidechse in achtlos weggeworfenem Abfall – Reifen, Kisten und zerbrochene Schlackesteine. Kelly sog gierig die Luft ein. Erst als er nicht mehr so keuchte, ging er hinein, hing die schweißnassen Binden zum Trocknen über eine Stuhllehne und duschte.
    Im Sommer war nicht einmal das kalte Wasser eine Abkühlung. Kelly spülte den Schweiß von seinem Körper, hielt die Hand unter das Wasser und beugte den Kopf nach vorn, bis der Wirbel am Halsansatz knackte.
    Immer noch rasten Endorphine durch seinen Körper. Die Folgen würde er erst heute Abend oder morgen zu spüren bekommen. Momentan empfand er nur eine wohltuende Müdigkeit und den gesunden Schmerz der Anstrengung. Er genoss ihn aus demselben Grund, aus dem er ihn all die Jahre zuvor gemieden hatte: weil er ihn an früher erinnerte.
    Nach dem Duschen frottierte er sich ab, legte sich auf das Bett und ließ die warme Luft den letzten Rest Feuchtigkeit auf

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