Die toten Frauen von Juárez
seiner Haut trocknen. Auch das hatte er im Guten wie im Bösen vergessen. Er döste eine Weile, schlief danach knapp eine Stunde und erwachte in einem Zimmer, das exakt wie vorher aussah; ihm kam es so vor, als wäre gar keine Zeit vergangen.
Er fühlte sich verändert, was nicht nur an der Mischung aus Energie und Müdigkeit lag, die auf ein gutes Training und ein noch besseres Nickerchen folgte. Kelly erinnerte sich dunkel daran, dass er von Paloma und Estéban geträumt hatte. Orte und Geschehnisse wirbelten in seiner Erinnerung durcheinander und verblassten rasch, doch er wusste, dass alles, was er heute Vormittag getan hatte, damit in Zusammenhang stand.
Das Telefon läutete. Kelly stand auf und ging nackt aus dem Schlafzimmer. Der dünne Teppich fühlte sich unter seinen sauberen Fußsohlen fettig und grobkörnig an; er beschloss, dass er Palomas Staubsauger ausleihen würde, um etwas dagegen zu unternehmen.
»Hallo?«, sagte er.
»Hola«,
antwortete Estéban am anderen Ende.
»Que tal?«
»Nichts«, sagte Kelly.
»He, hör mal, ich mach heute Abend einen Einkaufsbummel. Wie sieht dein Gesicht aus?«
»Ganz gut«, entgegnete Kelly. Die Blutergüsse waren fast verschwunden, nur die Nase war innen noch nicht verheilt. Aber zumindest sah er nicht mehr wie ein Zombie aus.
»Das ist gut. Pass auf: Kommst du mit auf den Einkaufsbummel? Zwei Stunden, üblicher Anteil. Was meinst du?«
Kelly sah sich im Apartment um. Jetzt kam es ihm zu eng vor. Etwas geisterte in seinem Kopf herum; vielleicht konnte er es abschütteln, wenner hier rauskam. »Okay«, sagte er. »Um wie viel Uhr wollen wir uns treffen?«
»Um neun«, antwortete Estéban.
»Neun«, sagte Kelly. »Geht klar.«
NEUN
In Ciudad Juárez herrschte jede Nacht rege Betriebsamkeit, jedenfalls soweit es Huren und Alkohol betraf. Es war zu einfach, die Grenze zu überqueren, und der Spaß war trotz aller Warnungen vor Taschendieben und Räubern und Drogendealern und Aids zu billig für die Arbeiter in El Paso, als dass sie
nein
gesagt hätten. Sie kamen in der Abenddämmerung über die Fußgängerbrücke, manchmal gleich nach der Arbeit, oder stellten ihre Lastwagen auf Parkplätzen ab, die man eigens für diejenigen angelegt hatte, die nach Süden kamen, um die Sau rauszulassen. Manchmal waren sie schon ein wenig angetrunken; der Einfall, nach Mexiko zu gehen, war ihnen dann vom Grund eines Bierkrugs oder eines Glases mit gelblichem Tequila eingetrichtert worden.
Einkaufsbummel mit Estéban fanden stets freitags und samstags statt. An diesen Abenden herrschte das dichteste Gedränge, waren die weißen Gesichter in der Überzahl, fiel es der Polizei schwerer, herauszufinden, wer wer war und was machte.
Sie trafen sich vor der
farmacia,
wo das Juárez der
turistas
aufhörte und das Juárez der
Juárenses
anfing. Die Apotheke hatte bis in die Nacht geöffnet, breite Gänge und eine helle, saubere Atmosphäre. Eine schäbige grün-rote »Tram«, nur ein Bus, der so hergerichtet worden war, dass er aussah wie eine Straßenbahn, transportierte die Amerikaner in klimatisiertem Komfort über die Grenze und lud sie direkt vor der Eingangstür ab. Unmittelbar um die
farmacia
herum sah man überwiegend ältere Weiße, die billige Medikamente für ihre amerikanischen Rezepte suchten, aber auch einige jüngere, die es auf Steroide, Viagra und andere Mittel abgesehen hatten, mit denen sich die ganze Nacht Party machen ließ.
Estéban kam mit zwei Plastiktüten aus der
farmacia.
Er überquerte mit Kelly die Straße, dann setzten sie sich im orangegelben Schein einer Straßenlaterne auf den Boden und machten sich bereit. Kelly sah, dass ein Flugblatt an den Laternenmast geklebt war:
justicia.
»Tu fünf Tabletten in ein Tütchen«, wandte sich Estéban an Kelly. »Der Preis bleibt unverändert, okay?«
»Okay«, sagte Kelly.
Aus seiner Einkaufstüte holte Kelly kleine Plastikbeutelchen mit Reißverschluss, solche, in denen fürsorgliche Mütter ihren Kindern eine kleine Stärkung mit zum Fußballtraining gaben: zu klein für ein Sandwich, aber groß genug für ein paar goldfischförmige Cracker oder, in diesem Fall, fünf Kapseln Oxycodon oder Hydrocodon. Die Medikamente befanden sich in kleinen, fein säuberlich beschrifteten orangeroten Flaschen in der zweiten Einkaufstasche.
Sie verteilten die Ware. Kelly trug eine weite Hose, die ihm zu groß war. In der Taille wurde sie von einem straffen Gürtel gehalten; die Hosenbeine hatte er nach innen umgekrempelt,
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